Börsenkapital für Wachstumsunternehmen: eine Langfristbetrachtung

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Heute gehen wieder mittelständische Biotech-Unternehmen (Innocoll, Affimed) an die NASDAQ, die Börsen buhlen um innovative Unternehmen und alle reden von Mitunternehmerbeteiligungen und der Dividende als „neuem Zins“, aber es scheint, was die Regulierung angeht, zwischen Deutschland und USA gegenläufige Tendenzen zu geben. Während die USA im Title IV des J.O.B.S. Act jetzt kleinere Emissionsvolumina von 20–30 Mio. USD lockt (bisher nur 14% der Neuemissionen in 2014), die kostspieligsten Regeln lockert und großzügigeres Marketing erlaubt, bestreiten wir den gegensätzlichen Weg: Drastische Sanktionen und neue Pflichten werden jetzt auch den mittelstandsfreundlichen Freiverkehr im Rahmen der Marktmissbrauchsverordnung treffen, und das neue Kleinanlegerschutzgesetz macht die Werbung bei breiten Anlegerkreisen schwieriger.

Mehr Wertzuwachs außerhalb der Börse

So kann man vielleicht sagen, dass die Rahmenbedingungen in angelsächsischen Ländern bei NASDAQ und AIM durchaus mit damals vergleichbar sind. Letzterer wurde von der Londoner Börse 1995 gegründet und hat sich in 20 Jahren über IPOs von zehn auf 1.077 Firmen entwickelt. Bei uns ist von der Deregulierung wie der Reform des AktG 1994 mit der „kleinen AG“ heute wenig zu spüren. Wenn der Börsenaspirant liest, dass man bei deutschen Hauptversammlungen klagen kann, weil die Handtrockner auf den Toiletten angeblich ohrenbetäubend laut waren, steigt der Unterhaltungswert, aber nicht die Bereitschaft, sich einen solchen Schritt in die „große AG“ anzutun. Damals wurde schließlich viel über Dual Listing diskutiert, während heute eher ein Dual Track im Vordergrund steht. Das liegt daran, dass IPOs in diesen Jahren als der Königsweg, auch was die Bewertung angeht, galten und heute viel mehr professionelle private Kapitalgeber große Summen stemmen (z.B. die Finanzspritzen bei Delivery Hero oder Uber). Der Cocktail aus mehr Regularien und einfacherem Private Money führt dazu, dass man die Frist zum Public Money gerne verlängert (siehe Facebook) und damit natürlich einen Teil des Wertzuwachses im kleinen Kreis privatisiert.

Ähnliche Geschäftsmodelle?

Natürlich ging es auch damals schon um Digitalisierung, aber Schwerpunkt war der Aufbau der Infrastruktur (Mobilfunk, Internet-Browser), die Software/Hardware/Internet (E-Commerce), die rote Biotechnologie, Cleantech (Windkraft, Solar) und moderne Medienkonzepte. Heute hat sich der Fortschritt nochmals beschleunigt, und das immer präsente Smartphone im Internet und die Fortschritte in der Sensorik erlauben noch weitere neue Branchen (Fintech, Industrie 4.0, Car to Go etc.). Die Geschäftsmodelle der Börsengänger 2014/15 aus dem Internet-/Tech-Bereich (Zalando, Rocket Internet, Ferratum und Windeln.de) sind bereits viel weiter entwickelt als die Konzept-IPOs Ende der 90er-Jahre.

Ähnliche Emissionskonzepte?

Während die durchschnittlichen Emissionsvolumina in den ersten Jahren im Neuen Markt ca. 51 Mio. EUR ausmachten, sind sie heute in Deutschland bei den fünf betrachteten IPOs viel größer, d.h., sie liegen beim etwa Zehnfachen! Wenn man erst später nach mehreren Finanzierungsrunden an die Börse geht, ist man größer. Bei den Emissionskonzepten aus Kapitalerhöhung und Umplatzierung gibt es nur wenig Unterschiede. Ähnlichkeiten findet man auch in der Bewertung: Umsatzmultiples über zwei und Kurs-Gewinn-Verhältnisse über 50. Allerdings war die Bewertung damals noch risikoreicher, da längere Verlustjahre eine Abschätzung erschwerten. Der direkte Vergleich von Voxeljet an der NASDAQ und SLM Solution in Frankfurt zeigt, dass wider Erwarten beide Gesellschaften zum allerdings unterschiedlichen Emissionszeitpunkt mit dem 11,5-Fachen des Geschäftsjahresumsatzes (vor Börseneinführung, Pre-Money) bewertet wurden. Interessanterweise nutzen diese IPOs 2014/15 wieder vermehrt moderne Beteiligungssysteme („ESOP“), obwohl der rechtliche Rahmen weniger Spielräume lässt als früher.

Mehr Schutz als Hemmnis für Privatanleger

Völlig anders ist mittlerweile der IPO-Vertrieb, da in Deutschland so gut wie keine Zuteilung mehr an Privatanleger erfolgt. Damals war eine Zuteilungsquote von bis zu 20–25% durchaus üblich. Welche Auswirkungen die Beschränkung auf institutionelle Anleger auf die Stabilität der Erstkurse hat, wird allseits beklagt. Während andere Länder den privaten Aktienbesitz auch steuerlich unterstützen, erhöhen wir die Barrieren. Dieser Superschutz des mündigen Bürgers vor Werbung ist das Gegenteil der „Grundsätze ordnungsmäßiger Zuteilung an Privatanleger“, die man noch in den 90er-Jahren einhalten musste, um Privatanleger angemessen zu berücksichtigen. Vielfach scheint die Einstellung zu sein: „Hat sich erledigt… es kommt ja keiner mehr!“ Wie bereits erwähnt gehen die USA, England, aber auch Frankreich hier einen anderen Weg.

Fazit

Bei uns wird der Kapitalmarkt nicht wirklich beworben, und man versteht oft nicht, ob die Transparenzsegmentierung so sinnvoll ist, wenn neue Gesetze Klein und Groß eher gleich behandeln. Auch der TecDAX hält nicht wirklich, was er verspricht: Zalando geht in den MDAX, Bertrandt in den SDAX, aber bereits zu Zeiten von SAP und Telekom etc. war nicht klar, wo denn TEC drin ist. Vielleicht muss man einfach noch einmal neu nachdenken, wenn man nach Einführung des Deutsche Börse Venture Networks weitere Erfahrungen gemacht hat. Funktionierende Kapitalmärkte würden auch in Deutschland größere Venture Capital-Investitionen im Later Stage attraktiv machen. Diesen Zusammenhang zwischen offenen Märkten und Innovationskapital sowie insbesondere den Erfolg der NASDAQ und des USM, dem Vorläufer der AIM, hatte Lothar Späth bereits 1986 über die Professoren Giersch und Schmidt erarbeiten lassen.

IPO-Kommentar Wolfgang Blaettchen b150

 

Prof. Dr. Wolfgang Blättchen ist geschäftsführender Gesellschafter von Blättchen Financial Advisory und seit über 25 Jahren unabhängiger Berater für kapitalmarktorientierte Eigen- und Fremdkapitalstrategien. Er ist aktiver Aufsichtsrat und hat zahlreiche Beiträge zum Thema Börse, Börseneinführung, Öffentliche Übernahmen, Anleihen und Corporate Governance veröffentlicht. Anlässlich der Eröffnung des Neuen Marktes im März 1997 hat er die IPOs der beiden ersten Emittenten Bertrandt und Mobilcom begleitet.