„Dramen sind immer auch Chancen“

Hallweger: Neben Deutschland wird sich auch die Siemens AG aus der Kernenergie zurückziehen. Ist diese Form der Energieerzeugung auf dem absteigenden Ast?

Von Pierer: Von dem Tagesgeschäft von Siemens bin ich mittlerweile zu weit weg, um das zu kommentieren. Die hiesigen Ausstiegsbeschlüsse sind nur auf Deutschland bezogen – andernorts wird man uns in dieser Weise nicht folgen. Wir werden im Nachgang der Katastrophe von Fukushima noch viele Diskussionen führen, was dort falsch gelaufen ist, was bei unseren Reaktoren anders ist oder auch bei denen in Frankreich und Tschechien, wo wir zukünftig unseren Strom beziehen werden. So wurde den Japanern vor gut zehn Jahren eine Technologie zur Wasserstoff-Unterdrückung angeboten – und abgelehnt, weil die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Fall zu niedrig war. Hierzulande verfügen alle Werke über eine solche Technologie.

Wieder: Wenn wir uns 25 Jahre zurückerinnern, haben große Teile der Bevölkerung nicht wahrnehmen können oder wollen, was in Tschernobyl passiert. Man ging schnell zur Tagesordnung über, auch weil es weit weg war. Jetzt haben wir live und rund um die Uhr auf allen Kanälen gesehen, was in Japan passiert ist. Das Umdenken hat begonnen, und im ersten Schwung haben die alternativen Energieversorger davon profitiert, die einen Zustrom neuer Kunden verzeichnen. Dramen sind immer auch Chancen, und davon wird in Deutschland ein ganzer Industriezweig profitieren – und mit ihm junge Firmen. Die Briten sind sich sicher, dass wir in zehn Jahren weltweit führend sein werden.

Von Pierer
: Die Katastrophe kann einen Innovationswettlauf verursachen. In der Energiediskussion muss man jedenfalls drei Prinzipien bedenken. Erstens Umwelt: Unser Ausstieg aus der Atomenergie bedeutet u.a. eine Renaissance ineffizienter polnischer Kohlekraftwerke und damit einen Anstieg der CO2-Produktion. Unsere Kohlekraftwerke sind effizienter. Zweitens Versorgungssicherheit: Wir reden jetzt über Gaskraftwerke und beziehen 30% unseres Gases aus Russland, dieser Anteil wird steigen. Wollen wir die Abhängigkeit steigern? Drittens Kosten: Was momentan passiert, ist abenteuerlich. Wir stehen eher in einem Subventionswettlauf, der die Wettbewerbsfähigkeit massiv beeinflusst.

Hallweger: Wo sich Entwicklungen auftun, ergeben sich auch Chancen. Klingeln Ihnen die Ohren, Herr Dr. Zinke, wenn Sie den polnischen Bedarf sehen, das Mehr an CO2 zu binden?

Zinke: Es ist tatsächlich die Frage, ob CO2 ein Abfall oder ein Rohstoff ist. Erdgeschichtlich gesehen gab es zwei Milliarden Jahre, in denen Kohlendioxid die einzige Kohlenstoffquelle war und die Biologie auf dieser Basis Stoffwechselsysteme aufbaute. Exogene Noxen wie Fukushima führen dazu, dass sich die politischen Akteure in Vorschlägen überbieten. Die Frage ist dann, ob dem unternehmerische Kraft entgegengesetzt werden kann. Der deutschen Volkswirtschaft fehlt die notwendige Gründungsdynamik, die mit neuen Unternehmen und neuen Geschäftsmodellen eine Volkswirtschaft erneuert. Im US-Index der 500 größten Unternehmen sind 30% jünger als 30 Jahre – im Dax ist lediglich mit SAP eine Nachkriegsgründung vertreten. Die Wertschätzung der Innovation fehlt – jedenfalls in meiner Generation. Bei den jungen Auszubildenden ist das anders, die entscheiden sich bewusst für zukunftsorientierte Technologien.

Hallweger: Welchen Ansatz sehen Sie für Start-ups, um von diesem Umfeld zu profitieren?

Wieder: Es ist ganz entscheidend, dass wir weniger Energie verbrauchen. Es gibt zum Beispiel eine Funkmaus eines jungen Start-ups, die bis zu 80% weniger Energie benötigt. Logitech als weltgrößter Hersteller von Mäusen hat diese Technologie einlizenziert. Der Verbraucher reduziert seinen Energiebedarf und der Hersteller steigert seinen Umsatz. Ein solches Produkt, das wirklich hilfreich ist, führt bei vielen Menschen zu Wohlstand und zu Wohlbefinden. Jedes Verfahren, das den Verbrauch senkt, kann weltweit erfolgreich sein – frei von ideologischen Aspekten wirkt es direkt auf den Geldbeutel ein.

Von Pierer: Die Geschwindigkeit, mit der eine Innovation am Markt platziert werden kann, spielt eine große Rolle. Industriekunden sind aber oft sehr konservativ. Es kommt daher darauf an, durch Lizenzieren schnell für eine hohe Marktdurchdringung zu sorgen. Die größte Gefahr droht jedoch aus Asien: Sie wollen den gleichen Wohlstand wie wir, haben aber die bessere Kostenstruktur.

Zinke: Ich spüre einen Bewusstseinswandel, auch im Kaufverhalten. Jetzt entwickeln sich Märkte, die es nie zuvor gegeben hat. Beispielsweise wächst das Segment Naturkosmetik mit zweistelligen Raten, an den etablierten Herstellern vorbei. Auch Red Bull hat eine Nische zwischen den etablierten Cola-Marken gefunden.

Hallweger: Schauen wir uns auch einmal andere Technologiefelder an. Wie sieht die Zukunft der Medizintechnik in zehn Jahren aus?

Von Pierer: In diesem Segment bestehen riesige Chancen, denn die Menschen werden immer älter und gesundheitsbewusster, dazu verfügen sie über mehr Geld als früher. Wir dürfen uns jetzt aber nicht in einer Nabelschau verlieren und von geschützten Märkten ausgehen. Denn die vielfältigen Chancen haben auch unsere asiatischen Wettbewerber erkannt. Der chinesische Technologieminister, der in Deutschland übrigens studiert und gearbeitet hat, hat bei einer Rede vor der Fraunhofer-Gesellschaft das chinesische Technologieprogramm vorgestellt. Darin enthalten sind alle Themen, die wir hierzulande ebenfalls angehen. Allein mit der schieren Masse an 400.000 neuen Ingenieuren jährlich – bei uns sind es 40.000 – besteht dort großes Entwicklungspotenzial.

Hallweger: Vor welchem Aufschwung steht die Biotechnologie?

Zinke: Die Biologisierung der Wirtschaft wird alternativlos sein. Die Leitfrage ist, wie man eingespielte Prozessketten beispielsweise in der Chemie aufbrechen kann. Die ersten Märkte, die biologisiert werden können, sind z.B. Kosmetik, Nahrungsmittel oder Werkstoffe, wie etwa der sogenannte Lotuseffekt zeigt. Ich bin froh, dass wir die esoterische Ecke der Spielerei verlassen haben.

Wieder: Einen Aspekt haben wir in der bisherigen Diskussion ausgeklammert: Es braucht Eigenkapital für die jungen Unternehmen, damit sie innovativ sein und wachsen können. Der Staat kann die Firmen nicht mit Kapital ausstatten, das muss aus der Bevölkerung kommen.

Hallweger: Herzlichen Dank für Ihre Beiträge.

Protokolliert von Torsten Paßmann
 
 
Zu den Gesprächspartnern

Prof. Dr. Heinrich von Pierer ist ehemaliger Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG, Dr. Holger Zinke ist Gründer und CEO des Biotech-Unternehmens Brain AG. Alfred Wieder ist Vorstand der Alfred Wieder AG und Matthias Hallweger Vorstand der HMW Emissionshaus AG.