Business as usual is over: Von Disruption zum Wettbewerbsvorteil mit Corporate Venturing

Business Model Reinvention

Florian Nöll, PwC Deutschland
Florian Nöll, PwC Deutschland

Bildnachweis: PwC Deutschland.

Disruptive Innovationen sind längst keine Randerscheinung mehr: Sie sind Teil unseres Alltags geworden und treten in immer kürzeren Abständen auf, sie revolutionieren ganze Industriezweige, verschieben Marktanteile und stellen etablierte Unternehmen vor große Herausforderungen. Unternehmen, die sich jetzt nicht neu erfinden können, werden in wenigen Jahren um ihr Überleben kämpfen.

Laut einer neuen PwC-Studie ist allein im Jahr 2025 eine weltweite Umsatzverschiebung in Höhe von 7,1 Bio. USD realistisch; in Deutschland werden wir bis Ende des Jahres eine Verschiebung von 240 Mrd. USD an Umsätzen sehen. Der Grund: Globale Megatrends wie Künstliche Intelligenz, die Klimakrise und geopolitische Dynamiken verändern die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten. Sie schaffen neue Kundenbedürfnisse und eröffnen neue Märkte; sie ermöglichen neue Geschäftsmodelle und ziehen neue Wettbewerber an. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Branchen und Industrien immer mehr. Für die etablierte Wirtschaft ist es daher an der Zeit, neue Wachstumsbereiche zu erschließen – Märkte, in denen Unternehmen branchenübergreifend zusammenarbeiten, um grundlegende menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.

Eine neue Marktlogik: Von Industrien zu Domänen

Die Folge dieser Entwicklungen: Unsere bestehende Industrie- und Sektorlogik ist nicht mehr zeitgemäß, da sie in der Regel service- oder endproduktgetrieben ist. Die Fokussierung auf menschliche Bedürfnisse ist eine andere Sichtweise auf unser industrielles System, wie die aktuelle PwC-Studie „Value in motion“ zeigt. Sie organisiert dieses System in neuen Ökosystemen (sogenannten Domänen), in denen Unternehmen menschliche Bedürfnisse erfüllen, indem sie ihre eigenen Fähigkeiten und Angebote mit denen von Partnerunternehmen kombinieren und mit ihnen zusammenarbeiten. Das Resultat: eine massive, globale Werteverschiebung und eine Rekonfiguration von alter Industrie- und Sektorlogik in eine neue Domänenlogik.

Mehr als Transformation: Business Model Reinvention

Um dieser Dynamik zu begegnen, reichen inkrementelle Anpassungen bestehender Konzepte und Strukturen oft nicht mehr aus. Unternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle vielmehr von Grund auf neu erfinden, um in der neuen Domänenlogik eine relevante Rolle spielen zu können. So entwickelt sich beispielsweise ein Energieversorger vom reinen Stromanbieter zum Teil des Smart Home- oder Sustainable Living-Ökosystems, oder ein Pharmaunternehmen wird vom Medikamentenhersteller zu einem Health as a Service-Anbieter mit digitalen Plattformen und datengetriebenen Lösungsansätzen zur personalisierten Versorgung. Es handelt sich also nicht mehr nur um eine Transformation bestehender, sondern um die Schaffung neuer Geschäftsmodelle: weg vom industriellen Silodenken, hin zu einem modularen, domänenorientierten Werteversprechen. Ein zentrales Werkzeug, um dieser wirtschaftlichen Neuausrichtung in der Praxis zu begegnen, ist Corporate Venturing. Der Begriff umfasst heutzutage alle Aktivitäten, bei denen Konzerne gezielt in innovative Start-ups investieren, eigene Ventures gründen oder Innovationspartnerschaften mit diesen eingehen. Das Ziel: Zugang zu neuen Technologien, Geschäftsmodellen, Wissen, Ressourcen und Talenten – ohne die Trägheit des Kerngeschäfts und der Unternehmensstrukturen.

Corporate Venturing als Investition in die Zukunftsfähigkeit verstehen

Dabei ist Corporate Venturing im Kontext von Business Model Reinvention aber mehr als ein Investmentvehikel: Es ist ein strategisches Instrument zur Zukunftssicherung und ein wichtiger Treiber für Businessökosysteme. Im Gegensatz zu linearen Wertschöpfungsketten sind diese Ökosysteme dynamische Netzwerke aus voneinander abhängigen Akteuren – einschließlich Lieferanten und sogar Wettbewerbern. Durch die Zusammenarbeit kreieren die Akteure dieser Ökosysteme mehr Wert, als sie es jeweils eigenständig jemals schaffen könnten. Das verbessert und erweitert das Wertversprechen für die Endkonsumenten. Der Blick in die Historie zeigt, dass über viele Jahre ökonomische Produkt- und Servicegeschäfte dominierten. Erst mit der digitalen Revolution um die Jahrtausendwende begannen Plattformansätze an Bedeutung zu gewinnen. Businessökosysteme repräsentieren die nächste Entwicklungsstufe dieser Plattformstrategien und sind im Markt längst kein Nischenthema mehr. Im Gegenteil: Betrachtet man die globale Marktkapitalisierung, lässt sich der Erfolg von sieben der zehn größten Unternehmen weltweit auf ein aktives Businessökosystem zurückführen. Kein Wunder also, dass bereits heute ausnahmslos alle der 500 größten Unternehmen der Welt in irgendeiner Form Corporate Venturing betreiben, wie ein aktueller Report des Mack Institute for Innovation Management zeigt. Der Blick nach Deutschland ist dagegen enttäuschend: Nur jedes dritte Unternehmen (32%) arbeitet hierzulande mit Tech-Start-ups zusammen, wie eine repräsentative Befragung des Digitalverbands Bitkom im Frühjahr 2025 ergab. 11% entwickeln gemeinsam neue Produkte oder Dienstleistungen (Venture Clienting), 3% sind finanziell an Start-ups beteiligt (Corporate Venture Capital), und 2% haben selbst Start-ups gegründet (Venture Building). Lockere Kooperationen, wie etwa bei Gründungswettbewerben, sind derzeit am häufigsten (23%). Noch erschreckender ist das Bild bei den angegebenen Gründen der Unternehmen, die nicht mit Start-ups kooperieren: Neben fehlendem Budget (45%), fehlendem Zugang (44%), fehlenden Use Cases (42%) oder fehlender Zeit (38%) erkennt jeweils rund ein Viertel keinen Mehrwert in einer Zusammenarbeit mit Start-ups oder betrachtet Start-ups nicht als Partner, sondern als Konkurrenten.

Druck zur Veränderung hoch

Das ist ein Mindset, das sich die etablierte Wirtschaft schlicht nicht leisten kann. Bereits im Januar 2025 zeigte PwCs globaler CEO Survey, dass 37% der CEOs in Deutschland bezweifeln, dass ihr Unternehmen bei unverändertem Kurs in zehn Jahren noch wirtschaftlich tragfähig ist (global: 42%). Und auch der Business Model Reinvention Pressure Index von PwC belegt: Der Druck auf Unternehmen, sich grundlegend zu verändern, ist in 17 von 22 im Index abgebildeten Industrien heute so hoch wie seit 25 Jahren nicht mehr. Nur wer heute das eigene Geschäftsmodell grundlegend neu denkt und veraltete Strukturen aufbricht, wird morgen einer der Gewinner sein. Jetzt ist der Zeitpunkt, um eine Unternehmensstruktur des Wandels zu fördern – für mehr Innovation und Resilienz. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Corporate Venturing natürlich kein Selbstläufer ist. Viele Programme scheitern an mangelnder strategischer Einbindung, kulturellen Barrieren oder fehlender Skalierung. Erfolgreiche Modelle zeichnen sich durch klare Governance, dedizierte Teams und eine enge Verzahnung mit der Unternehmensstrategie sowie die Unterstützung der Unternehmensführung aus. Denn die Wirkung von Corporate Venturing liegt im Design: Unternehmen müssen die verschiedenen Instrumente an ihre eigenen Bedürfnisse anpassen und in ihre bestehenden Venturing-Initiativen integrieren, um sicherzustellen, dass diese mit ihrem individuellen Kontext, ihrer Kultur und ihren strategischen Zielen im Einklang stehen.

Disruption als Chance begreifen

Zusammenfassend lässt sich sagen: Unternehmen müssen heute lernen, mit Unsicherheit zu leben, schnell zu handeln und mutig zu investieren. Denn wir befinden uns fortlaufend im Wandel, der durch den technologischen Fortschritt immer schneller wird. Wer heute nichts wagt, verliert morgen den Anschluss. Disruption ist nicht das Ende – sie ist der Anfang. Erfolg bedeutet in diesem Umfeld, Chancen zu ergreifen und proaktiv, aber auch strukturiert und strategisch zu handeln, um sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu sichern. Corporate Venturing kann dabei ein Instrument sein, um aus Unsicherheit Stärke zu machen, indem Unternehmen sie produktiv für Wachstum, Innovation und Transformation nutzen.

Über den Autor:

Florian Nöll ist Partner und Global Venturing & EMEA Startups, Scaleups Leader bei PwC Deutschland. Er ist Experte für Corporate Innovation, die digitale Wirtschaft und Start-ups sowie Brückenbauer zwischen Technologiegründungen und etablierten Unternehmen. Er
unterstützt Start-ups, berät Familienunternehmer, Geschäftsführer und Vorstände aus Industrie und Mittelstand und hilft ihnen dabei, ihre Geschäftsmodelle in die Zukunft zu überführen.