„Personalisierte Medizin ist etwas für große wie für kleine Arzneimittelfirmen“

Birgit Fischer ist Hauptgeschäftsführerin des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa)

VC Magazin: Wie schätzen Sie Vorteile und Chancen des Bereichs personalisierte Medizin derzeit ein?

Fischer: In der personalisierten Medizin bezieht der Arzt in seine Verordnungsentscheidung für einen bestimmten Patienten neben der Krankheitsdiagnose auch das Ergebnis eines vorgeschalteten diagnostischen Tests ein, eines Tests also, der individuelle – genetische, molekulare oder zelluläre – Patientenmerkmale charakterisiert. Damit wird Sorge getragen, dass der Patient ein bei ihm wirksames und für ihn verträgliches Medikament in der richtigen Dosierung erhält. Personalisierte Medizin erfordert geeignete Biomarker, deren prognostische Zuverlässigkeit zuvor nachgewiesen wurde. Dass ein solches Vorgehen in der Praxis tragfähig und nutzenstiftend ist, zeigt sich an den 23 Medikamenten, die schon auf diese Weise eingesetzt werden. Die meisten Patienten erleben aber bisher noch keine personalisierte Medizin. Doch dürfte sich das – langsam aber stetig – ändern. Das wird auch den Markt für Medikamente und Diagnostika tief greifend wandeln. Das ist auch gut so! Denn personalisierte Medizin kann Patienten schneller zu einer für sie nutzbringenden Behandlung verhelfen und gleichzeitig unser Gesundheitswesen effizienter machen. Übrigens sind schon fünf weitere personalisiert einzusetzende Medikamente zur Zulassung eingereicht.

VC Magazin: Der Bereich stellt einen Paradigmenwechsel dar, der jüngst an Dynamik gewonnen hat. Ist Deutschland aus regulatorischer Sicht auf diese Dynamik vorbreitet?

Fischer: Die Zulassungsbehörden haben die personalisierte Medizin verinnerlicht – sie sind sogar eine treibende Kraft. Eindeutiger Verbesserungsbedarf besteht bei der Kostenübernahme durch die Krankenkassen: Immer wieder kam es zu Verzögerungen bei der Erstattungsfähigkeit eines Vortestes – mit der Folge, dass das zugehörige, zugelassene Medikament nicht einsetzbar war. Hier muss nachgebessert werden! Schließlich darf die Forschungsgesetzgebung nicht so verändert werden, dass dies die Weiterentwicklung der personalisierten Medizin behindert.

VC Magazin: Wo sehen Sie bei der Weiterentwicklung des Segments deutsche Stärken?

Fischer: Gleich aus vier Gründen ist Deutschland ein Top-Standort für die Fortentwicklung der personalisierten Medizin: Erstens führen Firmen hier besonders viele klinische Studien zur Identifizierung von Personalisierungs-Biomarkern durch. Deutschland ist ja ohnehin nach den USA die weltweite Nummer zwei bei klinischen Studien. Auch in ihren deutschen Labors forschen internationale Pharma- und Biotech-Firmen außerdem intensiv auf diesem Gebiet. Drittens entdecken deutsche Forschungsgruppen immer wieder Marker, mit deren Hilfe sich auch ältere Medikamente künftig personalisiert einsetzen lassen, etwa das gängige Krebsmedikament 5-FU. Zu guter Letzt ist die personalisierte Medizin gerade als Forschungsförderschwerpunkt im Rahmen der Hightech-Strategie 2020 für Deutschland der Bundesregierung bestätigt worden.

VC Magazin: Was bewegt die großen Pharmaunternehmen, wenn es um personalisierte Medizin geht?

Fischer: In der Vergangenheit beschäftigten sich Pharmafirmen mit der personalisierten Anwendung ihrer neuen Medikamente oft erst kurz vor der Zulassung. Erst während der letzten Patientenstudien suchten sie nach Markern, die die individuelle Wirksamkeit oder Verträglichkeit vorhersagen. Die meisten Firmen haben aber mittlerweile Aspekte der personalisierten Medizin schon in frühe Phasen der Arzneimittelneuentwicklung integriert – sie ist also nicht mehr wegzudenken.

VC Magazin: Wo sehen Sie Chancen für junge Biotech- und Diagnostikunternehmen in Deutschland?

Fischer: Personalisierte Medizin ist etwas für große wie für kleine Arzneimittelfirmen. Denn bei jedem Medikament dürfte es günstig für die Klärung von Erstattungsfragen sein – und damit auch gut für den Umsatz –, wenn Verordnungsentscheidungen entsprechend wissenschaftlich gestützt werden können. Was die Diagnostik betrifft: Für fast jedes neue personalisierte Medikament ist ein eigener Vortest nötig. Damit eröffnen sich ständig neue Nischen für Diagnostikunternehmen – kleine wie große –, deren Kompetenz im jeweils benötigten Technologiefeld liegt.

VC Magazin: Von anderen lernen kann hilfreich sein: Welche Vorbilder sehen Sie international?

Fischer: Was die Grundlagenforschung betrifft, kann man von Dänemark lernen. Die dortige nationale Biobank mit anonymisierten Daten und Proben aus der ganzen Bevölkerung ist ein hervorragendes Forschungsinstrument für neue Biomarker. Hinsichtlich der Implementierung ist die Personalized Medicine Coalition in den USA vorbildlich: Hier arbeiten unterschiedliche Stakeholder eng zusammen und beraten auch die Politik. Gut ist, dass in Deutschland die jährliche Konferenz PerMediCon auf eine ähnliche Vernetzung der nationalen Stakeholder hinarbeitet.

VC Magazin: Stellt der Bereich eine Belastung oder Entlastung für den Gesundheitshaushalt dar?

Fischer: Bislang spielt er für den Gesundheitshaushalt noch keine große Rolle, und seriöse Prognosen lassen sich kaum treffen, weil viele Kosten noch im Fluss sind, etwa für Gendiagnostik. Eine Nettoreduktion der Gesundheitsausgaben kann jedoch schon angesichts der demografischen Entwicklung nicht prognostiziert werden. Sicher ist aber: Personalisierte Medizin bringt volkswirtschaftlichen Gewinn durch die Verbesserung der Ergebnisqualität medizinischer Versorgung – zum Vorteil der Patienten.

VC Magazin: Für den Bürger entsteht manchmal der Eindruck, dass die Verantwortlichen im deutschen Gesundheitssystem aneinander vorbeidiskutieren. Ist personalisierte Medizin ein gemeinsames Ziel zum Wohle des Patienten, hinter dem sich alle einen können?

Fischer: Ich wünsche mir, dass es das wird! Die Chancen dafür sind gut, weil es doch für alle Beteiligten nur Vorteile bringt.

VC Magazin: Danke für das Gespräch, Frau Fischer.

Das Interview führten Dr. Tilmann Laufs und Dr. Holger Bengs

Zur Gesprächspartnerin:
Birgit Fischer ist Hauptgeschäftsführerin des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa) (www.vfa.de). Sie war zuvor Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK; in der Politik war sie als Gesundheits- und Sozialministerin des Landes Nordrhein-Westfalen sowie als Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion in NRW aktiv.