„COVID-19 könnte für viele Gesellschaften zum Realitätstest werden“

Interview mit Christian Tönies, Poellath (P+P Pöllath + Partners)

„COVID-19 könnte für viele Gesellschaften zum Realitätstest werden“ - Interview mit Christian Tönies, Poellath
„COVID-19 könnte für viele Gesellschaften zum Realitätstest werden“ - Interview mit Christian Tönies, Poellath

Bildnachweis: Poellath.

Als im Frühjahr die Corona-Pandemie voll um sich griff, war die Unsicherheit auch in der deutschen Start-up- und Venture Capital-Szene deutlich zu spüren. Insbesondere bei den Unternehmen war die Sorge groß, die Investoren könnten ihr Kapital zurückhalten und versuchen, die Krise auszusitzen. Die Zahlen zeichnen allerdings ein anderes Bild. Zumindest bislang – denn die Spätfolgen sind noch nicht wirklich abzusehen.

VC Magazin: Herr Tönies, Sie sind seit 16 Jahren als Rechtsanwalt insbesondere im Bereich Venture Capital aktiv. Wie hat sich die Szene in Deutschland seither entwickelt?
Tönies: Ich bin seit dem Jahr 2002 bei Poellath tätig, seit 2004 als Rechtsanwalt, und kann sagen: Die Entwicklung war dynamisch und sehr positiv. Das merke ich schon allein an meinem eigenen Arbeitsaufkommen – ich hatte auch in Krisenzeiten keinerlei Unterauslastung. Zu Ihrer Frage: Nach dem Platzen der Dotcom-Blase haben sich die Karten neu gemischt und in Deutschland ist ein eigenes Venture Capital-Ökosystem entstanden. Die ersten zehn Jahre dieses Prozesses waren sicherlich geprägt davon, dass man hierzulande neue Technologien und Systeme kopiert hat. Aus diesen Aktivitäten heraus hat sich dann ein sehr facettenreiches Ökosystem entwickelt, das erfolgreiche Serial Entrepreneure und eine eigenständige Private Equity- und Venture Capital-Szene hervorgebracht hat. Gleichzeitig haben sich auch die Felder verändert, in die investiert wird: Standen bis etwa um das Jahr 2008 Medizintechnik und Biotech im Fokus, haben sich danach sehr viele Investments auf den Bereich E-Commerce konzentriert. Heute ist das Bild deutlich diverser und reicht von Fintech, Insurtech, Proptech, Healthtech bis Mobility, Energy und Education. Ein Thema, das meiner Meinung nach in der Zukunft sehr groß werden wird, ist Automatisierung. Auffällig ist außerdem, dass der Markt deutlich internationaler geworden ist. Waren zu Beginn hauptsächlich deutsche Investoren hierzulande aktiv, gibt es heute quasi kaum noch Finanzierungsrunden, die ohne internationale Beteiligungsgesellschaften ablaufen.

VC Magazin: Die Politik und manche Branchenvertreter fordern daher größere deutsche Fonds – insbesondere für Deals im zweistelligen Millionenbereich und darüber. Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Einschätzung nach, dass wir auf Sicht derart große Vehikel in Deutschland haben werden?
Tönies: Ich halte das grundsätzlich für möglich, wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen. Aber auch aufseiten der Gesellschaften ist es gar nicht unbedingt gewünscht, ein rein deutsches Investorenkonsortium zu haben. Venture Capital-finanzierte Unternehmen von der Größe wie der Solarisbank, N26 oder Contentful blicken auch immer ein Stück weit auf einen globalen Markt. Internationale Investoren können dabei unter Umständen die entscheidenden Türöffner sein. Auf der anderen Seite sind auch die „großen deutschen“ Investoren meist als internationale Strukturen aufgestellt und gar nicht mehr ausschließlich hierzulande beheimatet oder nur national finanziert. Unterm Strich gehe ich davon aus, dass der deutsche Anteil an den Konsortien wachsen wird, aber wir auch in Zukunft bei großen Finanzierungsrunden immer internationale Player dabei haben werden.

VC Magazin: Die Silicon Valley Bank hat kürzlich in einem Report kritisch darauf hingewiesen, dass mehr als 60% der weltweit aktiven Venture Capital-Gesellschaften noch keine Erfahrungen mit Krisen haben. Sehen Sie dort ebenfalls Risiken?
Tönies: Ich glaube, an diesen Bedenken ist durchaus etwas dran. Die Finanzkrise selbst hat die Venture Capital-Fonds kaum getroffen und seither ging es nur nach oben. COVID-19 könnte daher für viele Gesellschaften zu einem Realitätstest werden.

VC Magazin: Mit Beginn der Corona-Pandemie ging unter vielzähligen Start-ups die Sorge um, Investoren könnten deutlich zurückhaltender agieren. Wie investitionsfreudig sind Venture Capital-Gesellschaften Ihrer Meinung nach aktuell?
Tönies: Man muss hier meines Erachtens trennen. Auf der einen Seite gibt es eine Investitionsfreudigkeit für Technologien und Geschäftsmodelle, die weitgehend von Corona unabhängig sind beziehungsweise durch die damit verbundenen Einschränkungen sogar massiven Auftrieb erhalten haben – beispielsweise „Homeshopping“, Lieferdienste et cetera. Man möchte in diesen Bereichen Chancen nutzen – und gegebenenfalls zu niedrigeren Bewertungen einsteigen. Die zweite Säule sind die Konsolidierungen bereits getätigter Investments. Dabei wurden die Geschäftsmodelle der Portfoliounternehmen und die Auswirkungen von COVID-19 auf ebendiese analysiert. Tatsächlich haben sich in den meisten Fällen die Investoren für eine Weiterfinanzierung entschieden. In Einzelfällen habe ich auch erlebt, dass auf dem Gipfel der Unsicherheit im März und April manche Kapitalgeber nur noch „auf Sicht“ finanziert haben, das heißt bei Finanzierungsrunden kurz vor knapp das eigentlich zugesagte Investment auf eine minimale Brückenfinanzierung zurückgefahren haben.

VC Magazin: Auch bei Anschlussfinanzierungen oder hauptsächlich bei Neuinvestments?
Tönies: Das war ausschließlich bei Neuinvestments zu beobachten und lag daran, dass die beteiligten Venture Capital-Fonds nicht wussten, ob sie Kapital zurückhalten sollen, um das Bestandsportfolio zu konsolidieren, anstatt neue Beteiligungen einzugehen. Stand jetzt hat sich die Situation meiner Meinung nach etwas entspannt. Es zeigt sich, dass die meisten Player im Venture Capital-Markt vergleichsweise wenig von der Corona-Krise betroffen sind – mit Ausnahme natürlich vom Mobility-Sektor oder der Kreuzfahrtbranche, in der es ja auch eine Reihe von Start-ups gibt. Positiv ist anzumerken, dass auch in diesen Bereichen weiterfinanziert wird und bislang noch keine Insolvenzen zu verzeichnen sind. Allerdings dürfte der große Knall dann 2021 kommen, wenn sich die Gesamtlage weiter konsolidiert hat: Denn auf Basis der letzten vier bis fünf Monate wird kaum ein Investor seine Beteiligung abschreiben, was sich jedoch nach einer weiteren Konsolidierung ändern dürfte.

VC Magazin: In den USA haben – Corona zum Trotz – zuletzt einige Tech-Unternehmen ihren Gang an die Börse angekündigt. Welche Rolle spielt ein IPO bei deutschen Wachstumsunternehmen?
Tönies: Ich selbst berate einzelne Unternehmen unter anderem seit mehr als zwölf Jahren; da wird der Exit-Kanal irgendwann eng. Daher denke ich schon, dass das Thema Börse sowohl bei Unternehmen als auch bei Investoren auf dem Schirm ist. Die Öffnung in den USA beim Thema Direct Listing ist etwas, das durchaus spannend ist und neue Möglichkeiten schafft. Ich erwarte allerdings nicht, dass wir in den nächsten Jahren eine ähnliche Entwicklung in Deutschland sehen werden. Insgesamt gehe ich davon aus, dass wir auch hierzulande trotz COVID-19 Börsengänge sehen werden.

VC Magazin: Die Reisemöglichkeiten sind nach wie vor eingeschränkt, die wirtschaftlichen Aussichten ungewiss – erwarten Sie, dass internationale Investoren auch in Zukunft starkes Interesse an deutschen Wachstumsunternehmen zeigen, oder steht zu befürchten, dass sie sich stärker auf ihre Heimatmärkte fokussieren?
Tönies: Ich gehe überhaupt nicht davon aus, dass diese Punkte einen großen Effekt haben werden – schon allein deshalb, weil Fonds einen klaren Fokus haben, in welchen Regionen sie investieren. Dieser wird sich durch Corona nicht verändern. Der einzige Grund, den Investitionsfokus auf den jeweiligen Heimatmarkt zu legen, sind meines Erachtens politische Unsicherheiten im Ausland. Da Venture Capital-Fonds aber grundsätzlich opportunistisch agieren, gehe ich davon aus, dass das Interesse eher zunehmen wird.

VC Magazin: Inwieweit macht sich die Krise bei der Ausgestaltung von Beteiligungsverträgen bemerkbar?
Tönies: Sie macht sich in der Tat bemerkbar. Die letzten sechs bis sieben Jahre waren sehr gründerfreundlich. Es gab einen hohen Wettbewerb der Investoren, der dazu geführt hat, dass die Gründer eine gewisse Verhandlungsmacht bei der Auswahl der Kapitalgeber hatten. Das deutlichste Beispiel dafür, dass das Pendel nun etwas zurückschwingt, ist der Umstand, dass es mittlerweile wieder Bewertungsanpassungsmechanismen gibt. Auch werden die Garantien und die Due Diligence härter werden. Darüber hinaus erwarte ich, dass die Haftungshöchstgrenze für Gründer steigt und Gründer wieder verstärkt persönlich in die Haftung genommen werden. Auch Mitspracherechte dürften in Zukunft stärker eingefordert werden. Was nicht zu erwarten ist: dass es bei den Liquidationspräferenzen wieder absurde Auswüchse wie in den 2000ern geben wird.

VC Magazin: Herr Tönies, vielen Dank für das Gespräch.

Christian Tönies LL.M. Eur. ist Partner bei Poellath. Er berät im Bereich Mergers & Acquisitions mit Schwerpunkten auf Private Equity, Transaktionen sowie Venture Capital-Investitionen.