„Hohe Bewertungen verschieben die Interessen der Fonds auf frühere Finanzierungsphasen“

Interview mit Nicolas Gabrysch, Osborne Clarke

Nicolas Gabrysch, Osborne Clarke
Nicolas Gabrysch, Osborne Clarke

Bildnachweis: © Osborne Clarke.

Die E-Commerce-Branche hat in der Corona-Pandemie eine Trendwende eingeläutet – und zieht auch mit hohen Bewertungen Kapital an. Zudem wächst das ohnehin große Interesse der Investoren aus den USA und Asien.

VC Magazin: Sie beraten Start-ups und Venture-Fonds im Bereich digitaler Geschäftsmodelle zu Finanzierung. Für welche Geschäftsmodelle und Technologien werden derzeit die höchsten Bewertungen bezahlt?
Gabrysch: Nachdem zu Beginn der Corona-Pandemie auch aus den USA erst etwas zurückhaltend reagiert wurde – keiner ­wusste wirklich, was da auf uns zukommt –, gleichzeitig aber bedingt durch die Fondslaufzeiten nach wie vor erheblich Kapital vorhanden war, hat sich die gefühlte Verunsicherung und Zurückhaltung nicht bestätigt. Seit spätestens Mitte letzten Jahres erleben wir einen starken Boost sowohl für einzelne Branchen als auch bei den Bewertungen. Modelle im E-Commerce- und Direct Consumer-Bereich stehen hoch im Kurs, also in Bereichen, die die Organisation des Lebens und des Alltags erleichtern. Diese schienen vor der Pandemie nicht mehr so interessant, haben durch Lockdowns und Beschränkungen einen starken Aufschwung erfahren und sind zu Werttreibern geworden. Ein anhal­tender Trend geht in Richtung der Fintechs, die nach wie vor Bewertungstreiber sind. Konsolidierungen sind aber sicher auch vor allem im E-Commerce zu erwarten.

VC Magazin: Auch Nachhaltigkeit wurde pandemiebedingt ­stärker in den Fokus gerückt. Wie bewerten Sie hier den Boost?
Gabrysch: Seitens der Geschäftsmodelle besteht der Antrieb auf ­jeden Fall – die Bewertungen sind hier aber noch weit ent­fernt von anderen Bereichen. Viele gute Start-ups sehen wir zu Themen wie Food Waste oder CO2-Reduzierung und Klimaneu­tralität. Diese haben es leider etwas schwerer, hohe Bewertungen zu erzielen. Einen Vorteil gibt es aber: Viele Fonds haben sich Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben und beteiligen sich deshalb an entsprechenden Start-ups. ESG-bedingt brauchen die Fonds auch Projekte, die den Footprint verbessern, und davon können diese Start-ups profitieren.

VC Magazin: Empfinden Sie die hohen Bewertungen noch als marktkonform oder beobachten Sie Überhitzungsanzeichen?
Gabrysch: Die Bewertungen steigen, aber ich denke schon, dass sie noch „marktkonform“ sind – wie auch immer man das definieren möchte –, denn der Wettbewerb ist vorhanden und die Bewer­tungen werden bezahlt. Die Investoren überbieten sich, um in die Start-ups investieren zu können. Wie lange das allerdings noch anhält und auch die entsprechenden Exit-Märkte für die Bewer­tungen gegeben sind, wird sich zeigen. Momentan befinden wir uns immer noch in einer Niedrigzinsphase, und es liegt viel Kapital im Markt. Man sieht aber auch schon hin und wieder, dass die Bewertungen, die anfangs in Gerüchten gestreut werden, dann doch nicht so hoch realisiert werden. Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass die Bewertungen kurzfristig stark einbrechen – dafür ist der deutsche Markt mittlerweile zu etabliert. Auch ist der Bedarf des einen oder anderen Corporates, sich der Digitalisierung und Disruptierung eher über Start-ups anzunähern, nach wie vor gegeben.

VC Magazin: Wir erleben eine wahre Schwemme an neuen Fonds und Investoren aus dem In- und Ausland. Wie hat sich die Investorenszene in Ihren Augen verändert?
Gabrysch: Es gibt mittlerweile zahlreiche neue Fonds, auch einige, die aus ehemaligen Gründern bestehen und große Volumina an Kapital einsammeln. Zudem wächst der Appetit aus den USA und Asien stetig weiter – bedingt durch reichlich Kapital, das „unter die Leute muss“. Hier reicht den Amerikanern der eigene Markt schon lange nicht mehr; sie schauen verstärkt nach ­Europa und speziell Deutschland. Viele große Wachstumsfonds, die wir früher erst in späteren Runden gesehen haben, inves­tieren nun deutlich früher. Die Größen und Bewertungen der aktuel­len Finanzierungsrunden verschieben die Interessen der Fonds mehr in Richtung Seed- und Series A-Finanzierungen. Da hat sich vieles verändert, was für die deutsche Start-up-Szene auch sehr positiv ist.

VC Magazin: Bekommt der Markt dann wieder stärker ein Problem mit der Anschlussfinanzierung, wenn frühe Runden ­bereits sehr groß sind?
Gabrysch: Zurzeit nicht, da es auch in späteren Phasen noch genug Investoren gibt, die mit ausreichend Kapital Growth-Runden stemmen können. Zusätzlich gibt es Börsengänge und SPACs, die Möglichkeiten für die Kapitalaufnahme bieten, wenngleich SPACs etwas rückläufig zu sein scheinen.

VC Magazin: Sie leiten die deutschen Aktivitäten im New Yorker Büro von Osborne Clarke. Beobachten Sie tendenziell mehr deutsche Start-ups in den USA oder mehr US-Investoren in Deutschland?
Gabrysch: Ich sehe keine Abwanderung der Start-ups in die USA, und dass deutsche Start-ups in die USA „flippen“, kommt vor – aber das sind Einzelfälle in besonderen Situationen. Wenn heute Start-ups den Sitz in die USA verlegen, dann in erster Linie, weil sie dort auch ihren primären Markt sehen. Zudem ist es für ­große deutsche Start-ups, die hier finanziert werden, unter Umstän­den auch aus steuerlicher Sicht nicht so trivial, einfach mal den Hauptsitz in die USA zu verschieben. All unsere ak­tuellen Unicorns habe ihren Hauptsitz in Deutschland und expan­dieren dann in die USA oder in anderes Ausland über Landes­gesellschaften oder Zweigniederlassungen. Gleichzeitig sehen wir wie gesagt ständig mehr US-Investoren auf dem deutschen Markt – nicht nur mit Investments in Berlin, Köln und München.

VC Magazin: Wie hoch würden Sie die Diskrepanz bei Start-up-­Bewertungen zwischen Deutschland und den USA beziffern?
Gabrysch: In beiden Ländern wachsen die Bewertungen in den ­letzten Jahren, sowohl bei uns als auch in den USA. Die Bewer­tungen nähern sich vielleicht auch ein wenig an, aber in den USA liegen sie im Durchschnitt eher noch höher.

VC Magazin: Wo in Deutschland sehen Sie aktuell die interes­santesten Start-ups – nach wie vor in Berlin?
Gabrysch: Ich glaube, für die „interessantesten Start-ups“ ist das schwer zu sagen – spannende Teams finden sich überall, ob ­­Groß- oder Kleinstadt. Welcher Standort ist am größten und ­welcher müsste es sein: Natürlich ist Berlin ganz vorn, wenn man die Zahl der Start-ups, Investoren und Dienstleister im Finan­zierungsumfeld anschaut. Interessante Orte sind aber natür­lich auch München und Köln, mit sehr guten Fonds und Gründern. Auch Karlsruhe, die Region um Mannheim oder das Ruhrgebiet bieten spannende Unternehmen. Es ist aber un­gerecht, einzelne Städte und Regionen in den Vordergrund zu stellen.

VC Magazin: Also sollten sich Gründer trotzdem in Berlin ansiedeln, wenn sie jetzt einen geeigneten Standort finden möchten?
Gabrysch: Tendenziell besteht in Berlin das größte Netzwerk. Viele Investoren haben hier ihre Büros, und die Start-up-Dichte und damit das Netzwerk an Kontakten und Gleichgesinnten ist sehr groß. Das sind sicherlich aus Gründersicht wesentliche Faktoren für einen Gründerstandort, wenngleich Mieten für Büroflächen in der Hauptstadt wie auch in München ihren Preis haben. Da wird künftig gegebenenfalls auch das Umland zusätzlich inte­ressant. Zudem konzentrieren sich auch viele Events auf die ­großen Städte, sodass man sich zum Netzwerken dann doch ­wieder eher dort trifft.

VC Magazin: Sie haben früher viele Vorträge an Universitäten oder in Gründerzentren gehalten. Bleibt hierfür noch Zeit?
Gabrysch: Es ist tatsächlich leider etwas weniger geworden. Ich möchte mir wieder mehr Zeit dafür nehmen, da es mir immer viel Spaß gemacht hat. Für Netzwerk-Events bin ich aber nach wie vor lieber vor Ort und hoffe, dass die Offline-Events wieder zurückkommen.

VC Magazin: Herr Gabrysch, vielen Dank für das Interview.

Zum Interviewpartner: Nicolas Gabrysch ist Partner bei Osborne Clarke in Köln und begleitet seit über 15 Jahren Venture Capital-Finanzierungen für Investoren und Unternehmen.