Energiewende – aber digital

Cleantech- und Energy-Start-ups verändern die Strombranche

Yann Fiebig, HTGF
Yann Fiebig, HTGF

Bildnachweis: © HTGF.

Der Energiemarkt in Deutschland ist in Bewegung. Wir beobachten ein verändertes Marktgefüge, Endkunden spüren vermehrt die Auswirkungen der Energiewende, und neue Marktteilnehmer etablieren sich. Diese Veränderungen rütteln die Branche auf und bringen uns auf den Weg zu einer nachhaltigeren Energieerzeugung. Die große Herausforderung: Wir sind hinten dran und haben noch viel zu tun …

Kennen Sie das Fuchstal? Eine kleine Gemeinde in Ober­bayern mit knapp 4.000 Einwohnern; es gibt einen Skilift und zwei Supermärkte. Was dieses Kleinod mit dem Energie­markt in Deutschland zu tun hat? In zahlreichen regio­nalen und überregionalen Medien wird das kleine Dorf seit ­Kurzem immer wieder als Beispiel für die Energiewende herangezogen. Dem Plan zufolge soll die Dorfgemeinschaft langfristig energieautark werden, und sie geht in Sachen Nachhaltigkeit eige­ne Wege. Das Dorf steht damit symbolisch für das, was aktuell in Deutschland im Energiesektor passiert: reichlich Bewegung. Immer neue Marktteilnehmer kommen hinzu, Strukturen aus der Vergangenheit passen nicht mehr; derweilen etablieren sich innovative Geschäftsmodelle – eine Entwicklung, die der High-Tech Gründerfonds (HTGF) in Bonn, knapp 600 Kilometer entfernt von Fuchstal, sehr deutlich spürt.

Energie-Start-ups mischen den Markt auf

envelio ist eines dieser Start-ups, die den Markt grundsätzlich verändern möchten und sich neue Dynamiken zu eigen machen. Die Ausgründung aus der RWTH Aachen bietet Energienetz­betreibern die Möglichkeit, ihre Netze besser und effektiver zu planen. Smart Grid-Lösungen wie die Intelligent Grid Platform (IGP) von envelio gewinnen weiter an Relevanz, denn das Energie­system in Deutschland verändert sich: Die Einspeisung aus erneuerbaren Energien fluktuiert, und auch die Elektromobilität verändert das Lastverhalten. Dieser Belastung müssen die Netze standhalten. Gleichzeitig stellt die Dezentralisierung, als wesentlicher Bestandteil der Energiewende, die Stromnetz­betreiber vor große Herausforderungen. Wie im Fuchstal pro­duzieren mehr Gemeinden und Privathaushalte ihre Energie selbst. Durch eine kluge Smart Grid-Lösung kann der Strom im Netz durch lastflusssteuernde Betriebsmittel besser verteilt werden und gegebenenfalls sogar der Bau weiterer Strom­trassen obsolet werden.

Veränderte Dynamiken prägen den Markt

Das Besondere ist, dass rein softwarebasierte Lösungen wesent­lich zur Weiterentwicklung der Energiewirtschaft beitragen. Für die Akteure am Markt ist es unbedingt notwendig, die smarte Planung und Umverteilung von Energiekapazitäten digital zu orga­nisieren. Trends wie Mieterstrom, also der Direktbezug von Solarstrom in Mietshäusern ohne Netzdurchleitung, oder die Entwicklung hin zum Direktvertrieb, wie bei Power Purchase Agreements, wirken zusätzlich beschleunigend. Energieriesen wie E.on reagieren. Der Konzern aus Essen sicherte sich im ­Dezember 2021 die Mehrheitsanteile an envelio und geht einen wichtigen Schritt in Richtung Digitalisierung der Energiesys­teme – viele Großkonzerne agierten hier in den vergangenen Jahren zu zögerlich.

Investitionen in Klimaschutz

Digitalisierung ist ein zentraler Punkt bei der CO2-Reduktion. Dies zeigte auch eine Studie, die der Branchenverband Bitkom unlängst veröffentlichte: Bis 2030 könnten durch einen gesteigerten Einsatz digitaler Tools im Energiesektor jährlich bis zu 23 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Digitalisierung ist somit ein zusätzlicher Hebel bei der Einsparung von Treibhausgasemissionen. Weitaus entscheidender bleibt die Umstellung auf erneuerbare Energien: Allein im Jahr 2020 konnten laut dem Bundeswirtschaftsministerium hierdurch 38,1 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden – 15,2% mehr als noch im Jahr zuvor. Die Bereitschaft zu Investitionen im Bereich Klimaschutz steigt ­weiter. Sowohl E.on als auch RWE haben erst kürzlich bekannt gegeben, ihre Investitionen weiter massiv auszubauen. Das ist gut so, denn parallel zum gesamten Start-up-Markt in Deutschland erkennen wir ein gesteigertes Interesse internationaler Inves­toren an deutschen Energie- und Cleantech-Start-ups.

Cleantech feiert starkes Comeback – stark genug?

Nach dem ersten Boom von Cleantech zwischen 2006 und 2010 wartet nun eine neue Generation an Start-ups und Investoren darauf, die Herausforderungen unserer Zeit durch Technologie zu lösen. Deutschland schickt sich an, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen. Knapp ein Viertel der Climatetech-Start-ups in Europa kommt aus der Bundesrepublik – absolute Spitzenposition. Doch reicht das? Laut der Deutschen Energie-Agentur (dena) müssten bis 2030 rund 200 Mrd. EUR Risikokapital in Klima­technologien fließen, um die angestrebten Klimaziele zu erreichen. Aktuell werden jedoch nur 5% dieses Kapitals bereitgestellt. Hier ist noch viel Luft.

Fazit

Der Energiebereich ist ein wesentlicher Treiber der langfristigen Anstrengungen, die Klimaziele zu erreichen. Der Start-up- und Investorenmarkt ist aktiv. Junge Unternehmen haben die Lust und das Know-how für einen Wandel. Bei den großen Konzernen steigt die Investitionsbereitschaft. Eines ist sehr klar: Wir sind noch lange nicht am Ende. Die Energieerzeugung und -verteilung wird sich in Deutschland weiter verändern. Gemeinden wie das Fuchstal warten darauf, durch Technologie eine neue Energiepolitik vollziehen zu können. Wir lernen einmal mehr: Die Energiewende passiert überall.

Über den Autor:
Yann Fiebig ist Diplom-Ingenieur und betreut seit 2016 Start-ups aus den Bereichen Mobility, Industrial Software sowie Deeptech. Mit wegweisenden Leuchtturminvestments hat Fiebig neue Investmentthesen unter anderem im Bereich Raumfahrt und Quantentechnologien für den HTGF erschlossen.