Kooperation statt Konkurrenz: Das Ökosystem von Berlins Start-ups und Mittelstand

Interview mit Sebastian Stietzel (IHK Berlin)
Interview mit Sebastian Stietzel (IHK Berlin)

Bildnachweis: IHK Berlin.

Auch Berlins Wirtschaft trifft die aktuelle Konjunkturdelle. Dennoch scheint die Hauptstadt dank der einzigartigen Forschungs- und Wissenschaftslandschaft und der Start-up-Dynamik besser durch die Krise zu kommen als andere deutsche Regionen. Verbesserungswürdig ist aber die Vernetzung zwischen findigen Start-ups und etablierten Mittelständlern. Genau darin sieht Sebastian Stietzel, Präsident der Industrie- und Handelskammer Berlin, eine der Kernaufgaben seines Hauses für die kommenden Jahre.

VC Magazin: Herr Stietzel, die Wirtschaftsaussichten für das laufende Jahr sind mit 0,2 Prozent Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt mehr als bescheiden. Kann sich wenigstens das deutsche Start-up-Mekka Berlin davon freimachen – wie lief der Start der jungen Berliner Wirtschaft in das Jahr 2024 bisher an?

Stietzel: Natürlich macht sich die allgemeine konjunkturelle Lage auch bei den Berliner Start-ups bemerkbar. Der Zugang zu Kapital ist weiterhin deutlich schwieriger als noch vor 2-3 Jahren. Aber Berlin hat ein Asset, das auch Konjunkturflauten und Bürokratiebelastung trotzt – und das ist Berlin selbst. Die Stadt ist für international mobile Entrepreneure und Fachkräfte einer der attraktivsten Standorte Europas. Sicher könnte die Lage besser sein, aber ich bin optimistisch, dass wir auch in diesem Jahr unseren Ruf als Start-up-Hauptstadt verteidigen und ausbauen können.

VC Magazin: Die Forschungslandschaft in Berlin ist auf vielen Feldern der industrienahen Wissenschaft so dicht wie nirgendwo sonst in Deutschland. Ist das die Basis für den Erfolg von Start-ups – und könnte es damit auch eine Blaupause für die Cluster-Bildung andernorts in Deutschland bilden?

Stietzel: Das Berliner Wissenschaftssystem ist definitiv einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Eine so einmalige Dichte an vielen Institutionen gibt es nirgendwo in Deutschland. 40.000 Forschende und 200.000 Studierende bedeuten schlichtweg ein riesiges Potential für Innovationen und die Rekrutierung von Talenten. Die engere Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft ist deshalb eines meiner absoluten Schwerpunktthemen als IHK-Präsident. Wir haben in den letzten zwölf Monaten als Vertreter der Berliner Wirtschaft drei konkrete Kooperationsvereinbarungen mit Hochschulen abgeschlossen, das wollen wir unbedingt ausbauen. Außerdem haben wir die Einrichtung von gezielt ausgerichteten Anlaufstellen für die hiesige Transfer-interessierte Wirtschaft erwirkt. Auch an der geplanten Chemical Invention Factory der Technischen Universität haben wir einen Anteil. Die IHK Berlin hat die TU seit 2015 beim Projekt INKULAB unterstützt, einem Labor speziell für Ausgründungsprojekte mit Bedarf an Laborinfrastruktur. Das gab es so vorher nicht in Berlin. Natürlich sind aber auch andere Regionen in Deutschland hier gut aufgestellt – München mit viel Industrie und einer starken Gründungsunterstützung an den Hochschulen, oder z.B. Nordrhein-Westfalen, das in den letzten Jahren viel Geld in das Gründungsgeschehen aus den Hochschulen heraus investiert hat. Jede Unterstützung stärkt den gesamten Standort Deutschland, dennoch sind wir natürlich daran interessiert, mit Berlin an der Spitze zu bleiben.

VC Magazin: Welche Rolle für den Standort Berlin spielen die Hubs, die viele Konzerne und große Mittelständler wie Lufthansa, Deutsche Bahn, SAP, Continental oder Ottobock in Berlin errichtet haben für die Start-up-Kultur und die Wirtschaft generell in der deutschen Hauptstadt?

Stietzel: Solche Hubs können in ihrem jeweiligen Bereich natürlich absolut einen Unterschied machen. Wovon die Berliner Start-ups aber in besonderer Weise profitieren, ist die Vielfalt der hiesigen Hubs. Die Berliner Wirtschaft ist grundsätzlich ausgesprochen breit aufgestellt. Es gibt nicht den einen Großkonzern oder mittelständischen Weltmarktführer wie beispielsweise im süddeutschen Raum, der als Wirtschaftsmagnet einer Region Innovationen fördert. Start-ups profitieren deshalb auf jeden Fall von dem breitgefächerten Angebot in Berlin. Die Vielzahl der Hubs der etablierten Unternehmen hier in der Stadt zeigt, dass auch große Konzerne das Potenzial Berlins erkennen: Die vielen Gründungszentren, die wissenschaftlichen Institutionen, die Förderstrukturen, – sie bilden gemeinsam mit den privaten Hubs ein sehr starkes, weit verzweigtes Innovations-Netzwerk, von dem alle profitieren.

VC Magazin: Start-ups sind, wenn die Business-Modelle aufgehen, die großen Mittelständler und Konzerne von morgen. Sind Start-ups damit auch die größten Wettbewerber etablierter Mittelständler?

Stietzel: Nein! Geschäftsmodelle, Kundenwünsche und Rahmenbedingungen ändern sich, das ist seit Jahrhunderten so und erfolgreiche Unternehmer wissen, dass Wandel zum Geschäft – und zum Erfolg – gehört. Sicher – und auch das gehört zur Wahrheit – werden VC-orientierte Start-ups gern von entsprechend aufgestellten Konzernen gekauft. Aber ich bin davon überzeugt, dass die etablierten Mittelständler etwa durch Kooperationen mit Startups enorm profitieren können.

VC Magazin: Nochmals nachgefragt: Sie plädieren also dafür, in Start-ups und etablierten mittelständischen Unternehmen primär keine Konkurrenten zu sehen. Sondern vielmehr potenzielle Partner, die gemeinsam an Prozessen und Produkten für morgen arbeiten. Haben Sie ein paar Beispiele aus Berlin von Fällen, in denen das bereits idealtypisch gut geklappt hat?

Stietzel: Studien zeigen, dass kleine und mittlere Unternehmen, die mit Start-ups zusammenarbeiten, mehr über neue Methoden der F&E-Arbeit wissen und eher über den viel zitierten Tellerrand gucken. Das kann im Übrigen auch beim Recruiting helfen. Start-ups können z.B. gemeinsam mit etablierten Mittelständlern die Zukunftsfähigkeit einer Branche, eines Wirtschaftsstandortes sichern. Wenn Mittelständler zukunftsfähig bleiben wollen, müssen ihre Prozesse, Produkte, etc. auf dem neuesten Stand sein. Hier entwickeln Start-ups, besonders wissenschaftsbasierte Ausgründungen, oft neue Standards, welche diese Unternehmen mitentwickeln, einkaufen und anwenden können, um die eigene Produktion, das eigene Geschäft zu verbessern. Beide – etablierte Mittelständler und Start-ups – können wunderbar auf Augenhöhe miteinander arbeiten, voneinander lernen und profitieren.

VC Magazin: Die Einsicht in Kooperation und Kollaboration ist das eine. Das andere die Frage, wie und wo sich Start-ups und Mittelständler konkret begegnen und miteinander arbeiten können. Sie haben mit „Mittelstand trifft Startups“ jüngst eine Art bundesweites Business-Date ins Leben gerufen. Was versprechen Sie sich davon?

Stietzel: Start-ups und etablierte Mittelständler sind noch viel zu häufig in unterschiedlichen Welten unterwegs. Und dabei meine ich vor allem kleine mittelständische Unternehmen, die sich keine F&E-Abteilung oder Innovationscouts leisten können. Als IHK Berlin wollen wir da Match-Maker sein, Business-Tinder, wenn Sie so wollen.

VC Magazin: Mitte März dieses Jahres ging es bei „Mittelstand trifft Startups“ um das Thema Fachkräfte – und smarte, KI-basierte Tools von Start-ups, die mittelständische Unternehmen dabei unterstützen können, vakante Stellen schneller mit den richtigen Leuten zu besetzen und so das eigene Wachstum zu steigern. Wie lief die Veranstaltung und welchen Eindruck hat Sie bei Ihnen hinterlassen?

Stietzel: „Mittelstand trifft Startups“ ist eine bundesweite IHK-Veranstaltung. Dabei können sich Start-ups aus ganz Deutschland zu einer vorgegebenen Aufgabenstellung mit ihren Angeboten bewerben. 2023 ging es um die Immobilienbranche, in diesem Jahr um das Querschnittsthema Fachkräfte. Die Start-ups sollten bereits erste Referenzkunden und damit auch schon Produkte, die Mittelständler direkt einkaufen könnten, vorweisen. Die Start-ups pitchen zunächst ihre Angebote vor den interessierten Mittelständlern, in den anschließenden Breakout-Sessions gibt es dann die Gelegenheit für vertiefende Gespräche. Gerade für die kleineren teilnehmenden Mittelständler ist es häufig das erste Mal, dass sie eine konkrete Vorstellung davon erhalten, wie eine Zusammenarbeit mit einem Start-up aussehen könnte. Und wenn wir als IHK Berlin auf diese Weise zur Sicherung der Innovationskraft des Wirtschaftsstandorts beitragen können, macht mich das tatsächlich auch ein wenig stolz.

VC Magazin: Vielen Dank für das Gespräch!

Über den Interviewpartner:

Sebastian Stietzel ist der Präsident der Industrie- und Handelskammer Berlin.