Kapital, KI und Konjunktur

Trotz Krise: Die neue Stärke des Frühphasenmarkts

Simon Schmincke (Creandum), Sebastian Borek (HTGF) & Dr. Andreas Schenk (Alstin Capital)
Simon Schmincke (Creandum), Sebastian Borek (HTGF) & Dr. Andreas Schenk (Alstin Capital)

Bildnachweis: Creandum, HTGF, Alstin Capital.

Während Konjunktur und Industrie schwächeln, fließt so viel Wagniskapital nach Deutschland wie selten zuvor. Internationale Fonds drängen in die Frühphase, Künstliche Intelligenz dominiert die Gründungsszene – und mit Programmen wie den exist Startup Factories entsteht eine neue Infrastruktur für Hightech-Gründungen. Der Boom ist allerdings selektiv.

Für Start-ups, die in der Industrie nach Kunden und Partnern suchen, scheinen die Rahmenbedingungen derzeit wenig rosig. Konjunktur und Export schwächeln, Unternehmen
bauen Personal ab, ganze Branchen kämpfen mit hohen Energiekosten und geopolitischen Unsicherheiten. Auch Venture Capital-Investoren, die traditionell auf einen funktionierenden
Exit-Markt angewiesen sind, haben derzeit kaum Grund zur Freude – schließlich sind Börsengänge Mangelware, und M&A-Transaktionen verlaufen schleppend. Schlechte Zeiten für Gründer also? Ganz im Gegenteil: Wer in die Frühphase blickt, erkennt eine Welt voller Chancen. „Es gab noch nie so viel Interesse internationaler Investoren am deutschen Markt. Heute machen selbst die großen US-Fonds Pre-Seed-, Seed- und A-Runden am laufenden Band in Deutschland“, konstatiert Simon Schmincke, General Partner beim Wagniskapitalgeber Creandum. Zu einer vergleichbaren Einschätzung kommt Dr. Andreas Schenk, Partner bei Alstin Capital: „Bis zur Series A sind wir in Deutschland top ausgestattet. Alles, was darüber hinausgeht, wird schwieriger. Für die Anschlussfinanzierungen fehlt nach wie vor lokales Kapital – da springen meist internationale Investoren ein.“

Kapitalflut und härterer Wettbewerb

Die Kehrseite des Kapitalzustroms: Der Wettbewerb um die besten Teams ist härter denn je. „Es gibt in Deutschland keinen Deal, den wir machen, bei dem nicht mindestens drei bis sieben Termsheets von anderen Investoren auf dem Tisch liegen“, sagt Schmincke. Auch die Qualitätsmaßstäbe haben sich verschoben. Früher seien Start-ups mit einem jährlich wiederkehrenden Umsatz (Annual Recurring Revenue; ARR) von 1 Mio. EUR im oberen Zehntel gewesen und hätten ihre A-Runde sicher planen können. Heute sehen Schmincke und seine Creandum-Mitstreiter „Unternehmen, die 20 Mio. EUR ARR in neun Monaten erreichen – oder 100 Mio. EUR nach acht“. Auch Schenk sieht den Markt im Umbruch und hebt besonders die Rolle internationaler Investoren hervor: „Die großen Runden machen einfach internationale Venture Capital-Investoren, und auch bei den Top 10% der Series A-Deals mischen immer mehr internationale Fonds mit. Durch digitale Methoden Start-ups zu finden, hat den Markt transparenter denn je gemacht.“

Hypethema und Booster für Wachstum

Aufgrund der unsicheren Weltlage nimmt speziell die Tages- und Publikumspresse Investitionen in Start-ups aus dem Defence-Bereich wie Helsing besonders wahr. Der dominierende Trend ist aber ein anderer: „Artificial Intelligence ist Thema Nummer eins, zwei und drei“, äußert sich Schmincke pointiert. Entsprechend seien rund 70% der neuen Creandum-Investments KI-nativ – von Infrastruktur über Modelle und Tooling bis hin zu vertikalen Anwendungen. Das 2003 in Stockholm gegründete Early- und Later Stage-Unternehmen ist dabei auf beiden Ebenen investiert: in Infrastruktur wie bei Black Forest Labs oder Modal und in Application Layer wie Boardy, Lovable oder Sereact. „Es war nie spannender, Investor zu sein – aber auch nie spannender, Unternehmer zu sein“, deutet Schmincke seine Begeisterung für Chancen durch KI an. Schenk sieht dabei den größten Hebel in Vertical AI: „Deutschland hat bei den großen Modellen den Zug verpasst. Aber bei vertikalen Anwendungen sind wir stark.“ Beispiele reichen von Legaltech-Lösungen
für Anwaltskanzleien über Sales- und Support-Bots bis hin zu E-Commerce-Tools, die Produktbilder automatisch generieren. Auch Cybersecurity bleibe ein robustes Feld. Besonders spannend findet er das entstehende Feld „Support AI“: „Da passiert gerade Beeindruckendes – bis hin zu Systemen, die ganze Desktop-Umgebungen per Sprache steuern, auch wenn das heute noch ein wenig unheimlich wirkt.“ Sebastian Borek, seit Oktober 2025 neues Mitglied in der Geschäftsführung des High-Tech Gründerfonds (HTGF), sieht KI zum Vorteil von Gründern als Gamechanger: „Wir bewegen uns in eine hybride Welt, in der virtuelle Agents 24 Stunden am Tag Aufgaben übernehmen. Das erhöht die Wachstumsgeschwindigkeit von Start-ups enorm.“ Zudem schätzt er, dass KI möglicherweise einen neuen Gründergeist wecke: „Die Prognose lautet, dass im Arbeitsmarkt bis 2030 rund 20% der klassischen Einstiegsjobs wegfallen. Das könnte dazu führen, dass sich junge Talente häufiger für die Selbstständigkeit entscheiden.“

KI als Überlebenshilfe

KI senkt zugleich die Hürden für Gründer. Borek: „Prototypenentwicklung geht heute deutlich schneller. Man muss nicht mehr programmieren, sondern prompten können. Prompten kann man sich schneller beibringen als Programmieren.“ Dadurch könnten selbst kleine Teams mit überschaubaren Ressourcen skalierbare Produkte auf den Markt bringen. Unter Investoren kursiere sogar die These, dass man bald das erste Unicorn sehen werde, das nur 18 Angestellte hat, so der HTGF-Geschäftsführer. Doch so einfach sei es nicht. „Die Eintrittsbarrieren mögen niedriger sein, aber das bedeutet nicht, dass es leichter wird, sich am Markt zu behaupten. Kunden zu gewinnen, Communitys aufzubauen und Investoren zu überzeugen, bleibt mindestens so herausfordernd wie früher“, warnt Borek. Mit dem richtigen Mindset kann KI aber auch eine Überlebenshilfe sein. Ein Beispiel ist das Kölner Start-up doinstruct: Ursprünglich als klassisches SaaS-Tool gestartet, hat das Unternehmen seine Plattform vollständig auf Künstliche Intelligenz umgestellt. „Charlotte Rothert hat doinstruct praktisch einmal auf links gedreht. Das war überlebenswichtig, weil sonst jemand anderes die gleiche Idee einfach mit KI umgesetzt hätte“, erzählt Schmincke.

Climatetech und die Energiefrage

Neben KI sehen die Investoren vor allem Energie und Dekarbonisierung als langfristig relevante Felder. „Proxima Fusion ist für mich ein Leuchtturm, weil Energieerzeugung eines der zentralen Zukunftsthemen ist. Gleichzeitig wird auch die Energiespeicherung immer wichtiger. Beide Themen sind entscheidend – nicht nur für die Industrie, sondern auch für Künstliche Intelligenz“, sagt Borek. Auch Schenk verweist auf Energieeffizienz als robustes Feld. Mit etalytics hält Alstin ein Portfoliounternehmen, das Energiemanagementsoftware für Rechenzentren entwickelt. „Die können 30% bis 50% des Stromverbrauchs bei Kühlsystemen einsparen – bei der Explosion des Datenzentrumsmarkts ist das ein riesiges Potenzial.“ Schmincke betont die Bedeutung von Impact-Fonds wie AENU oder Norrsken sowie der Sektoren Climatetech und Kreislaufwirtschaft, sieht für sein Haus aber nur einen Teilbereich als relevant an: „Wir selbst fokussieren uns aber stärker auf Elektrifizierung und Software rund um Energie, etwa bei Ladelösungen für Elektrofahrzeuge.“

Zyklische Märkte, selektive Exits

Auf große Trends und Aufschwünge folgen üblicherweise auch immer Abschwünge; die Venture Capital-Szene kennt das nur zu gut. Borek erinnert sich: „Ich habe jetzt dreimal Sturm-und-Drang-Zeiten erlebt, in denen jedes Corporate sofort auf alles angesprungen ist – und die Phasen danach, in denen alles zurückgefahren wurde, Kosten gesenkt und Arbeitsplätze gestrichen.“ Genau in einer solchen Phase sieht er den Markt wieder. Doch gerade in Krisen seien die Chancen groß. „Die Unternehmen, die bei Schlüsseltechnologien drangeblieben sind – vielleicht nicht mehr so laut, aber fokussiert –, haben beim nächsten Zyklus enorm profitiert.“ Beim Thema Exits herrscht Einigkeit: Der Markt ist schwierig. „Natürlich wollen alle das IPO oder den ganz großen Exit. Aber zur richtigen Zeit auch einen Verkauf zu realisieren, um Ressourcen für neue Investments zu schaffen – das ist in der aktuellen Lage eine Herausforderung“, sagt Borek. Schenk sieht das ähnlich: „Der Exit-Markt gilt momentan ein Stück weit als tot. Börsengänge sind keine Option, und auch M&A ist verhalten. Wir halten gute Beteiligungen deshalb lieber länger.“ In einer sehr komfortablen Situation als Investor, von der auch Gründer profitieren, ist man diesbezüglich bei Creandum: Dort gehören schließlich fünf der acht großen US-amerikanischen universitären Endowment-Fonds zu den Kapitalgebern. Da diese in deutlich größeren Zeiträumen denken, können Fondsgenerationen ebenso deutlich länger laufen und Start-ups gehalten werden.

Neue Infrastruktur für Gründer

Um an diesen Punkt zu gelangen, muss es aber erst einmal die Pipeline geben, die am Anfang mit einer ordentlichen Menge guter Gründungen gefüllt wird. Die Bundesregierung hat sich hier UnternehmerTUM aus München zum Vorbild genommen und fördert über das Bundeswirtschaftsministerium zehn „exist Startup Factories“ im Umfeld gründungsstarker Hochschulen und Forschungseinrichtungen für mehr Hightech-Ausgründungen „made in Germany“. Die Mittel von jeweils bis zu 10 Mio. EUR sollen von privaten Geldgebern gespiegelt werden, damit regionale exzellenzorientierte Start-up-Ökosysteme mit internationaler Ausstrahlung entstehen. Borek begrüßt die Maßnahmen als „eines der größten Gründungsprojekte, die wir in Deutschland je hatten“ und sieht diese „Factories“ als eine strategische Antwort auf die Frage, wie Deutschland seine Innovationskraft in die Breite tragen könne. Borek: „An den Unis entstehen gerade Start-ups aus Bereichen wie Material Science oder Industrialtech. Diese tiefen Technologien brauchen Strukturen, damit sie nicht in der Schublade bleiben. Genau da setzen die Factories an, und wir sind als HTGF nah dran, um diese Entwicklungen früh zu begleiten.“

Stärken, Schwächen, Ausblick

Trotz aller Herausforderungen sehen die Investoren Deutschland als starken Standort. „Wir sind besser, als wir kommunizieren. In Europa genießen deutsche Start-ups und Gründer einen sehr hohen Stellenwert. Europa schaut im Start-up-Bereich auf Deutschland, und wir tragen hier die klare Verantwortung, eine Vorreiterrolle einzunehmen“, sagt Borek. Schmincke betont die Lernkurve der Branche: „2020/21 waren viele betrunken vom Erfolg. Auch wir haben teilweise zu hohe Bewertungen gezahlt. Die Lehre ist klar: Heute nehmen wir manchmal früher Risiko raus.“ Und Schenk richtet den Blick nach vorn: „Unternehmen bauen zwar Stellen ab, investieren aber gleichzeitig in KI und Automatisierung. Wer hier den richtigen Fit findet, merkt von einer Rezession kaum etwas.“ Von der Politik wünschen sich die Investoren vor allem weniger Bürokratie. „Wir sind extrem regulierungsgetrieben“, kritisiert Schenk. „Prozesse wie ‚Know your Customer‘ oder BaFin-Prüfungen verzögern Finanzierungsrunden teilweise um Tage, nur weil eine Stromrechnung fehlt. Hier brauchen wir dringend Vereinfachungen.“ Schmincke ergänzt: „Unsere Unternehmen konkurrieren global, kämpfen aber in Europa mit Überregulierung, komplizierter Besteuerung und rigidem Arbeitsrecht. Wir brauchen Visa-Erleichterungen und einen liberaleren Arbeitsmarkt.“

Fazit: Vision und Tempo gefragt

Die Botschaft der Investoren ist eindeutig: Kapital ist reichlich vorhanden – doch nur für die Besten, die Trends wie KI, Energie oder vertikale Anwendungen besetzen. Defencetech sorgt für Schlagzeilen, bleibt aber ambivalent. Climatetech ist wichtig, aber kein Selbstläufer. Am Ende, so Borek, gehe es um mehr Mut und mehr Geschwindigkeit: „Wir brauchen klare Visionen und müssen Start-ups schneller Verantwortung übertragen. Die Intelligenz und die Ressourcen sind da – wir müssen sie nur konsequenter nutzen.“