Innovation statt Freilichtmuseum

Liebe Leserinnen und Leser,

vor vielen, vielen Jahren war Köhler nicht der Name eines Bundespräsidenten, sondern ein durchaus ehrbarer und vor allem wichtiger Beruf. Ebenso hatten Drahtzieher, Flachsspinner oder Korbmacher einstmals ihre Bedeutung im Wirtschaftsleben. Ihre Blütezeit aber ist vorbei, denn der Fortschritt hat diese und viele weitere traditionelle Berufe weggefegt. Sie wurden zu Relikten der Vergangenheit, die Erzeugnisse fanden keine Abnehmer mehr oder konnten industriell effektiver produziert werden. Im Alltag dominieren Freude über den Komfort moderner Güter und deren günstige Preise; Wehmut entsteht höchstens noch beim Besuch eines Freilichtmuseums. Regelmäßig reihen sich weitere Berufe in die Liste ein, und ein heißer Kandidat ist der Plattenhändler. Derzeit kämpft die Musikindustrie sichtbar ums Überleben, und besonders den Plattenfirmen steht eine harte Kurskorrektur vor, falls sie eine Zukunft haben wollen.

Der Verkauf von „echten“ Tonträgern wird zum Auslaufmodell, die Einnahmen sinken seit Jahren. Der Absatz von MP3-Dateien steigt zwar kontinuierlich, bringt aber keine Erlösung, denn die Konsumenten kaufen lieber einzelne Songs als ganze Alben. Anstatt mit eigenen Ideen auf die geänderten Wünsche der Konsumenten einzugehen, verharrten die Plattenfirmen in Angststarre und verklagten lieber ihre Hörer bzw. Kunden. Innovation sieht anders aus – und kommt eher von (ehemaligen) Start-ups. Über MySpace betreiben Bands ihr Marketing selbst, Sellaband aus Bottrop macht Fans zu Plattenproduzenten, und dank Last.fm lässt sich Webradio auf den eigenen Geschmack zuschneiden. Dazu kommt, dass Musik mittlerweile tendenziell ein Marketinginstrument ist, denn die wahren Umsätze werden an anderer Stelle generiert. So ist Apple Marktführer bei den renditestarken MP3-Playern, und der finnische Handyhersteller Nokia bewirbt seine Geräte mit der „Comes with music“-Option. Diese ermöglicht ein Jahr lang den kostenfreien Zugriff auf Musik, die Nutzer bezahlen lediglich das Handy und die Datenübertragung.

Vor allem Apple und Nokia sorgen mit ihren internetfähigen Handys dafür, dass Platzhirsche aus ihrem Revier verdrängt werden: Service-Provider wie Telekom oder Vodafone stehen kurz davor, zu reinen Dienstleistern degradiert zu werden. Für frische Ideen sorgen Start-ups und Wagnisfinanzierer, die den vollen Umfang von iPhone und N-Series nutzen. Ihnen bieten sich derzeit erhebliche Chancen, wie Jürgen Hoffmann in seiner Titelgeschichte (S. 14-18) herausgefunden hat. Im Kern gibt es hier zwei Entwicklungszweige. In dem einen wird Software produziert, etwa Mobile Games, in dem anderen werden Produkte oder Verfahren verbessert.

Der Wind des Wandels weht und die Gründerszene baut – gemeinsam mit den Investoren – fleißig Mühlen. Ob die großen Akteure der Gegenwart bald ein Fall fürs Museum sind, hängt davon ab, ob sie sich anschließen oder lieber Mauern hochziehen. Wer weiß, vielleicht gibt es bald ein Freilichtmuseum mit einer nachgebauten Fußgängerzone der 90er Jahre, originalgetreu mit Plattenläden und Telekomshops? Das wird wahrscheinlich erneut nostalgische Gefühle wecken. Aber im Alltag sollte die Freude über die harmonische Ehe von Handy und Internet sowie den einfachen Zugang zu Musik überwiegen.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre und dass Sie selbst zu den Mühlenbauern gehören.

torsten.passmann (at) vc-magazin.de