Chemie-Start-ups als Garant für Innovationen

Chemie-Start-ups als Garant für dringend notwendige Innovationen
Chemie-Start-ups als Garant für dringend notwendige Innovationen.

Die Herausforderungen sind global: Die Welt befindet sich im Wandel. Wichtige, unser Leben beeinflussende Entwicklungen sind nicht aufzuhalten. Nicht nur beim Wechsel zur dezentralen Energieversorgung oder der Digitalisierung zur Industrie 4.0, egal ob es um gedruckte Elektronik oder die additive Fertigung von Bauteilen oder ganzen Häusern per 3-D-Druck geht, die Chemie spielt mit. Sie wird wichtige Lösungen in Form neuer Materialien liefern und gleichzeitig auch Teil der sich branchenübergreifend neu organisierenden Wertschöpfungsketten sein. Aufsehenerregende Blockbuster-Innovationen finden kaum noch statt; viele kleine stoffliche, technische oder prozessuale Innovationen sind heute systemimmanent; gleichzeitig wandelt sich die Chemie-Industrie vom Materialhersteller zum Problemlösungsanbieter.

Mehr Chemie-Start-ups

Reicht das angesichts der Herausforderungen im globalen Wettbewerb? Nein, sagen die Konzerne selbst. Nach jahrelanger Konzentration im margenschwachen Chemiegeschäft auf die Kernkompetenzen ist nun ein Umdenken erforderlich – in kurzer Zeit. Neue Partner und neue Formen der Zusammenarbeit werden zwingend. Was sich zwischen smarten Biotech-Unternehmen und Big Pharma seit Jahrzehnten in Partnerschaften zur Entwicklung neuer Medikamente etabliert hat, muss sich in der Chemie nun wiederholen. Laut der Studie „Innovationen den Weg ebnen“ im Auftrag des VCI beurteilt ein Drittel der Großunternehmen in Deutschland den Mangel an Start-ups als starkes Innovationshemmnis. Das ist ein deutliches Warnsignal. So engagieren sich Altana, BASF, Bayer, Evonik und Lanxess bereits im High-Tech Gründerfonds, und es werden Inkubatoren wie der CoLaborator von Bayer oder der Accelerator von Merck zur Förderung von Gründungen aufgelegt. Die BASF beteiligt sich über ihren 175-Mio.-EUR-Fonds an jungen Unternehmen. Über 1.200 Businesspläne schauen sich die Manager jährlich an und investieren in zwei bis drei Start-ups, nicht nur in deutsche. Um auf dem Radar der Investoren zu erscheinen, ist Risikominimierung erforderlich: Chemiker müssen lernen, frühzeitig auf Kunden zuzugehen. Technische Perfektionen aus dem Labor sind zunächst nicht gefragt: Bananen-Projekte reifen zusammen mit dem Kunden.

Gute Beispiele gibt es

Wer sich als Partner für die Großindustrie etablieren will, setzt auf eine gut patentierte Technologie. Die Optimierung des Geschäftsmodells und dessen Finanzierung sind weitere Herausforderungen. Ein Beispiel dafür ist die Hydrogenious Technologies GmbH aus Erlangen mit einer Speichertechnologie für Wasserstoff. Durch die Teilnahme an Gründerwettbewerben wie dem Science4Life VentureCup brachte sich das Team unternehmerisches Wissen bei und baute branchenübergreifende Netzwerke auf. Mit dem Investor wird nun der Vertrieb aufgebaut. Am Beispiel der Cysal GmbH aus Münster, einem Start-up, das Herstellverfahren für Dipeptide zum Einsatz in der Nahrungsmittel-, Tierfutter- und Kosmetikindustrie entwickelt, zeigt sich der größte Fallstrick bei Biotechnologiegründungen: die Wahl des Geschäftsmodells. Gestartet war das Unternehmen mit der Idee, Entwickler, Produzent und Vertreiber zu sein. Doch heute werden die entwickelten Verfahren direkt auslizenziert: Die hohen Investitionen in Anlagen und Personal waren nicht zu stemmen. Wie die IoLiTec Ionic Liquids Technologies GmbH aus Heilbronn beweist, ist der Schritt, mit dem Verkauf im Heimatmarkt anzufangen, folgerichtig, doch Wachstum passiert nur auf internationalem Parkett. Mit der Gründung der US-Niederlassung verzehnfachte sich der Umsatz mit ionischen Flüssigkeiten und Nanomaterialien. Die Erklärung dafür ist so einfach wie nachvollziehbar: Mit erklärungsbedürftigen Produkten ist man besser direkt beim Kunden, zumal Amerikaner lieber von Amerikanern kaufen und in der Heimatwährung Dollar bezahlen. Gutes Geschäft nur mit Produkten? Mitnichten. Die Polymaterials AG aus Kaufbeuren ist ein erfolgreicher Dienstleister zur Entwicklung neuer Polymerwerkstoffe und praktiziert das Geschäftsmodell „Innovations-Tandem“: Chemie-Konzerne profitieren in der Entwicklungskooperation von dem im Start-up angehäuften Spezialwissen, ähnlich wie die Pharmaindustrie bei der Entwicklung der Diagnostik mit Spezialisten zusammenarbeitet. In der Chemie kann der Juniorpartner gleichzeitig den Markteintritt für ein neues Material beginnen, bis dann der Seniorpartner Produktion und Logistik der Großmengen übernimmt.

Mehr Entrepreneurship

Von Erfolgsgeschichten kann man lernen, aber unternehmerische Selbstläufer gibt es nicht. Entrepreneurship muss noch stärker vermittelt, und es muss für ein besseres Gründerklima geworben werden: So kennen sich die Venture Capitalisten zwar mit der klinischen Wertschöpfung im Biotech-Sektor aus und können Unternehmen daran bewerten, aber mit individuellen Chemie-Geschäftsmodellen tun sich die Investoren schwer. Gleichzeitig finden aufgrund des an den Universitäten zu verbreiteten Denkens in Projekten anstatt in Produkten noch zu wenige Ideen ihren Weg aus der Wissenschaft in die Wirtschaft. Dazu werden viel mehr interdisziplinäre Netzwerke sowie eine stärkere Würdigung des interdisziplinären Studiengangs Wirtschaftschemie benötigt.

Fazit

Die Herausforderungen sind da, und eine Einsicht wächst: Wir brauchen mehr kleine, flexible Chemie-Unternehmen gepaart mit unorthodox und frisch agierenden Chemie-Unternehmerinnen und -unternehmern. Unsere Fach- und Methodenkompetenz ist weltweit unbestritten. Woran es hierzulande in der Chemie noch mangelt, ist das unternehmerische Gedankengut und die Start-up-Mentalität. Wenn die Autoindustrie umparken muss, dann muss die Chemie-Industrie „umexperimentieren“. Vom Kulturschock beim Aufeinandertreffen berichten beide Seiten, Jungunternehmer und Industriegranden. Jetzt heißt es sich häufiger zu treffen, um eine gemeinsame Sprache zu finden. Der „Innovationsmotor Chemie“ war und ist eine lange überfällige Veranstaltung, der man von ganzem Herzen eine Fortsetzung wünschen darf.

 

Dr. Holger Bengs, BCNP Consultants Chemie
Dr. Holger Bengs, BCNP Consultants
Tobias Kirchhoff, BCNP Consultants Chemie
Tobias Kirchhoff, BCNP Consultants

 

 

 

 

 

Dr. Holger Bengs, Dipl.-Chemiker und Geschäftsführer (links), und Tobias Kirchhoff, Dipl.-Wirtschaftschemiker und Büroleiter Köln, der BCNP Consultants GmbH mit Stammsitz in Frankfurt beraten Großunternehmen und Gründungsvorhaben aus der Chemie. Als Mitglieder der Vereinigung Chemie und Wirtschaft setzen sich beide für mehr Unternehmertum in der Chemie ein, u.a. bei den regelmäßigen VCW-Stammtischen in Berlin, Frankfurt und Köln.