„Bei mir gab es immer nur Ja oder Nein“

Interview mit Urs Meier, ehemaliger FIFA-Schiedsrichter

Interview mit Urs Meier, ehemaliger FIFA-Schiedsrichter
Interview mit Urs Meier, ehemaliger FIFA-Schiedsrichter

Bildnachweis: © Urs Meier Management AG.

Insgesamt hat Urs Meier fast 900 Spiele als Schiedsrichter geleitet, so bei der Fußball-WM 1998 das hochbrisante Vorrundenspiel zwischen den USA und Iran oder das Finale der Champions League 2002. Heute leitet er seine eigene Firma. Ein Experte für das Thema Entscheidungen treffen ist der ehemalige Schiedsrichter damit umso mehr.

VC Magazin: Was kann man aus der Schiedsrichtertätigkeit für Entscheidungen lernen?
Meier: Zwischen Schiedsrichterei und Management gibt es vielerlei Parallelen. Bei beiden geht es um gute Entscheidungen. Dafür muss man mehrere Faktoren beherrschen: Wie gehe ich mit Druck um, wie sehr kann ich die Situation aus der Sicht des anderen sehen, wie gut gehe ich mit Fehlentscheidungen um, wie sorge ich für Fairplay? In allem ist wichtig, dass meine Entscheidungen von innen herauskommen, ich ich selbst bleibe, nicht etwas vorspiele, gefallen will. Für gute Entscheidungen braucht es in beiden Welten aber noch mehr: Durchsetzungsvermögen. Und wenn man Menschen führt, braucht es das Team, man sollte Menschen mögen und sie vor allem wahrnehmen. Zudem sollte man bei Entscheidungen klar; bei mir gab es immer nur Ja oder Nein.

VC Magazin: Wie kann man all diese Faktoren für optimales Führen und Entscheiden zusammenbringen?
Meier: All diese Fähigkeiten zusammen ergeben das ganze Bild eines „Entscheidermosaiks“. Wenn alle Puzzleteile das Bild füllen, hätte man alles, was als Entscheider oder Manager gebraucht wird. Aber keiner hat alle Teile. Fehlen große Teile – zum Beispiel der Mut, Entscheidungen zu treffen –, werden Löcher im großen Bild erkennbar, auch bei Unternehmern, Gründern oder Venture Capital-Verantwortlichen. Dann ist man nicht in der ersten Riege der Führungskräfte, sondern – um im Bild der Schiedsrichterei zu bleiben –, dann pfeift man in einer unteren Liga. Dann wirkt das Peter-Prinzip: Beförderung bis zur Überforderung.

VC Magazin: Was ist für das große Bild noch wichtig?
Meier: Zentral wichtig sind die Visionen, die man in die Wirklichkeit bringen will. Visionen ohne Taten sind Träume, und Taten ohne Visionen sind verlorene Zeit. Visionen und Taten zusammen können die Welt verändern. Für die Vision sollte man starke positive Gefühle abspeichern: Ich habe das Gefühl, vor 80.000 Zuschauern im Mailänder Stadion San Siro zu pfeifen, bereits viele Jahre zuvor immer wieder aktiviert. Das Fühlen der Vision gibt eine unglaubliche Kraft auf dem Weg, sie wirklich zu erreichen. Viele hegen nur Ideen im Geist, sie aktivieren das Gefühl nicht immer und immer wieder.

VC Magazin: Kommen wir zu Fehlentscheidungen – was können Entscheider vom Schiedsrichter für den Umgang damit lernen?
Meier: Für mich gibt es ehrliche und unehrliche Fehlentscheidungen. Bei den ehrlichen habe ich nach bestem Gewissen alles richtig gemacht, aber etwas übersehen und es später erkannt, etwa im Fernsehen. Dafür sollte man die Verantwortung übernehmen. Interessanterweise begreifen viele Manager und Entscheider nicht, dass es Vertrauen schafft, oft sogar als Persönlichkeitsstärke wahrgenommen wird, wenn man für Fehlentscheidungen Verantwortung übernimmt und sich entschuldigt. Anders ist es bei unehrlichen Entscheidungen. Bei mir als Schiedsrichter war das, wenn ich nicht gut vorbereitet, krank oder nicht im Vollbesitz meiner Kraft war oder einen Elfmeter gepfiffen habe, weil ich unter Druck von außen stand. Solche fehlerhaften Entscheidungen zuzugeben, die nicht von einem selbst kommen, ist schwierig. Für die Gründe haben die Leute kaum Verständnis. Gleichzeitig nimmt man solche Entscheidungen mit ins übernächste Spiel, vielleicht sogar jahrelang. Deshalb gilt: Solange Du ehrlich bist, bist Du nicht angreifbar – im unehrlichen Bereich hingegen schon. Den Bereich muss man meiden. Im Management ist es eine große Gefahr, wenn man dauernd überfordert ist und gleichzeitig die Entscheidungen treffen muss, die nicht zur Ausbildung und zum Wesen passen. Diese Entscheidungen werden nicht gut vorbereitet und unter Druck getroffen sein. Man sollte dann aus der Überforderung einen Schritt zurück machen, auch wenn es schwierig ist.

VC Magazin: Als Gründer oder Unternehmer geht es oft um große Entscheidungen. Was sind gute Strategien, um bei Druck klar zu bleiben?
Meier: Wenn man alles nah an sich ranlässt, macht es enormen Druck. Bei einem Fußballspiel haben alle Beteiligten Druck: die Vereine, die FIFA, der Veranstalter vor Ort und bei kritischen Spielen wie USA gegen Iran sogar Regierungen. Man muss sich klarmachen: Deren Druck ist nicht mein Druck. Lass ihn dort, wo er hingehört. Geh in den Bereich, den Du lösen kannst. Ein Spiel muss man mit Leichtigkeit mit Freude leiten.

VC Magazin: Welche Rolle spielte dabei die mentale Vorbereitung?
Meier: In der Vorbereitung auf ein Spiel waren meine Bilder im Kopf immer dieselben. Schlusspfiff, beide Mannschaften umarmen sich. Die Zuschauer applaudieren den Spielern und auch mir als Schiedsrichter, und dann laufen wir gemeinsam in die Katakomben Richtung Garderobe. Mit so einem positiven Bild kann ich mit dem Druck umgehen. Wenn man solche Bilder immer wiederholt, kommt es meistens auch so. Gleichzeitig habe ich die Umstände immer so genommen, wie sie waren. Also nicht das Wetter ist schuld, meine Assistenten haben immer gesagt: Du betonst stets „dieses Wetter ist mein Wetter“, egal ob Regen, Sturm oder Sonne. Das Wetter ist für alle dasselbe. Man muss jedes Wetter positiv nehmen.

VC Magazin: Thema Fairplay – was können Unternehmer hier von Schiedsrichtern lernen?
Meier: Alle Probleme bei Fairplay entstehen, weil man nicht offen und transparent ist. Wer für kurzfristige Gewinne in Kauf nimmt, unfair zu spielen, zahlt dafür mittel- und langfristig. Das sieht man etwa bei einem Schiedsrichter, der vor 20 Jahren mal 300 EUR angenommen hat; es hängt ihm heute noch nach. Fairplay zielt auf Langfristigkeit. Deshalb sind Fragen wichtig: Wie schadet das meinem Mitarbeiter, meiner Geschäftsbeziehung et cetera? Wie kann ich etwas so gestalten, dass es doch gut wird für Kunden, Geschäftspartner, Mitarbeiter? Und wenn Mitarbeiter, Verhandlungspartner nicht fair spielen, muss Führung das klar aufzeigen.

VC Magazin: Welche Themen spielen noch eine Rolle für optimale Entscheidungen?
Meier: Ein gutes Team hilft sehr. Die Zeit der Alleinherrscher im Management, die alles am besten wissen, ist vorbei. Bei entscheidenden Themen muss zwar einer hinstehen, aber auch Deutschland ist 2014 vor allem als Mannschaft Weltmeister geworden. Um gute Teams zu bauen, sollten Manager Menschen mögen und dem Team Klarheit und Vertrauen vorleben. Gleichzeitig hat man im Fußball wie im Management gegebenenfalls Mitarbeiter, die nicht ins Team passen. Jürgen Klopp zum Beispiel hat bei Mannschaften, die er übernommen hat, immer sehr schnell Spieler rausgenommen und gleichzeitig Spieler dazu genommen, die passten. In meinen Vorträgen nutze ich ein Beispiel aus dem American Football. Da rennt der letzte Mann für ein Tackle 120 Yards, und der Gegner mit dem Ball, der losgerannt ist, hat nur 100 Yards – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, aber er schafft es. Ich stelle dann die Frage: Warum rennt der trotzdem los? Würden Eure Mitarbeiter auch losrennen? Wenn nicht, was würde sie losrennen lassen – Macht, Geld? Meistens geht es aber um Anerkennung, um Teamspirit. Führung bedeutet, die Menschen wirklich zu sehen, mit ihnen wirklich zu sprechen. Und wenn Unternehmen zusammengehen und zwei Unternehmenskulturen, Philosophien und Strukturen aufeinandertreffen, muss man sie auf der menschlichen Ebene zusammenbringen.

VC Magazin: Wie würden Sie dabei vorgehen?
Meier: Wir machen das sehr praktisch. Bei einer Fusion haben wir den Mitarbeitern aus beiden Firmen die Aufgabe gegeben, gemeinsam ein Fußballspiel wie in der Bundesliga vorzubereiten – mit Zuschauern, Journalisten, Fans, Fotografen, Mannschaften, Trainern, Zeugwarten et cetera. Mitarbeiter beider Firmen mussten Aufgabenbereiche gemeinsam organisieren, beispielsweise als Fans eine Choreografie einüben, Transparente und Fahnen bauen. Ich hatte das Spiel auch geleitet, ich wollte wissen: Wie agieren sie als Mannschaft, wie kommunizieren sie miteinander? Das haben wir alles in ein Debriefing genommen. Die Quintessenz war: Nicht das Spiel war das Entscheidende, sondern die ganzen Wochen das Austauschen und die Vorbereitung und miteinander. Das Ereignis war großartig. All das gemeinsam aufzubauen hat die Firmen zusammengebracht. Man hat die Stärken und Schwächen voneinander kennengelernt. Es war ein toller Anlass, um die Kulturen zusammenzubringen, die Integration voranzutreiben. Die Fusion ging dadurch viel schneller vonstatten und über das Spiel wird heute noch gesprochen.

VC Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.

Über den Interviewpartner:
Urs Meier war bis zum Jahr 2004 einer der erfolgreichsten FIFA-Schiedsrichter. Heute hält er Vorträge zum Thema Entscheidungen und coacht und berät dazu auch Unternehmen.