Status quo: Start-up-Ökosystem Deutschland

Genügend vielversprechende Ideen

Die Gründerlandschaft in Deutschland ist größer und reifer geworden: Die Gründer sind professioneller, die Investoren finanzierungsfreudiger. Einige Rahmenbedingungen bedürfen jedoch weiterer Verbesserung. 

Als zu Beginn des Jahrtausends die Dotcom-Blase weltweit platzte, war der Frust überall groß – in besonderem Maße aber in Deutschland, wo man vorher noch vergleichsweise wenig Erfahrung mit Start-ups hatte, die in größerer Zahl an die Börse drängten, obwohl ihr Geschäft noch weit davon entfernt war, etabliert zu sein. Das Börsensegment Neuer Markt wurde für viele zum Synonym für das Scheitern schlechthin. Die Wirkung in der Öffentlichkeit war auch deshalb verheerend, weil sich erstmals überhaupt sogenannte ganz normale Bürger ohne das geringste wirtschaftliche Wissen auf den Aktienmarkt gewagt hatten, um dann prompt enttäuscht zu werden. Die Stimmung war also miserabel, und sie führte dazu, dass das Gründungsgeschehen in Deutschland fast zum Erliegen kam. Welcher junge Mensch wollte schon die Berufskarriere nach einem erfolgreichen Hochschulstudium mit der Ungewissheit in einem selbst gegründeten Unternehmen beginnen? Wer sollte einen darin unterstützen, wenn die Eltern oder Großeltern gerade Geld mit dieser Art Firmen verloren hatten? Wie viel sicherer war es da doch, sich mit einem guten Abschluss für eine Laufbahn in einem großen Konzern oder bei einem erfolgreichen Mittelständler zu entscheiden. 

Weit entwickeltes Ökosystem

Seit damals hat sich viel verändert. Deutschland hat sich mittlerweile einen guten Platz unter den führenden Gründernationen erarbeitet. Vor allem der Standort Berlin hat erheblich aufgeholt. „Berlin ist in den letzten Jahren nach London der beste Gründungsstandort in Europa gewesen, wenn man die Kriterien investiertes Kapital einerseits und kumulierte Unternehmenswerte andererseits zugrunde legt“, sagt Fabian Heilemann, selbst mehrmaliger Unternehmensgründer, Venture Partner bei Earlybird und seit Kurzem Geschäftsführer des auf Impact-Investments fokussierten Fonds Aenu. München hat sich ebenfalls gut entwickelt, wenn auch in einer kleineren Dimension. Der wichtigste Grund für diesen positiven Wandel ist die Verbesserung des Gründerökosystems. Alles das, woran es in den Nullerjahren mangelte, ist inzwischen vorhanden. Damals gab es wenige Business Angels, gab kaum Acceleratoren, Inkubatoren, nur eine Handvoll institutioneller Wagniskapitalgeber. „Heute haben wir eine etablierte Landschaft von deutschen Venture Capital-Fonds, es kommt viel Geld aus den USA und Asien direkt nach Deutschland, wir haben Hunderte Business Angels“, sagt Heilemann. Das bedeutet, dass Gründerteams mit einer plausiblen Geschäftsidee und einem guten Pitch kaum Probleme haben, eine Finanzierung zu bekommen. Hier ist die strukturelle Kapitalknappheit früherer Jahre inzwischen überwunden – zumindest in der Frühphase. In den weiteren Entwicklungsphasen kommt der deutsche Wagniskapitalmarkt allerdings noch immer an seine Grenzen, denn die Größe der Fonds lässt oft die millionenschweren Investitionen nicht zu, die Start-ups ab der Series B oder bei einer Wachstumsfinanzierung brauchen. Diese kommen nach wie vor aus dem Ausland. 

Fabian Heilemann; Aenu

Finanzierung sicherstellen

Wie war dieser Umschwung überhaupt möglich? Ein entscheidender Impuls war sicherlich die Gründung des High-Tech Gründerfonds (HTGF) vor 17 Jahren. Der HTGF wollte den völlig darniederliegenden Markt für Gründungsfinanzierungen im Hightechbereich wiederbeleben. Dazu haben sich die öffentliche Hand und die Privatwirtschaft zusammengetan, um gemeinsam wie ein Venture Capital-Fonds aufzutreten und erfolgversprechende Unternehmen in ihrer Frühphase zu unterstützen. Im ersten Jahr finanzierte der Fonds bereits 40 Start-ups. Mittlerweile hat der HTGF 682 Investments getätigt, über 1.900 Anschlussrunden finanziert und 160 Exits durchgeführt. In diesem Herbst startet der vierte Fonds mit einem Volumen von 400 Mio. EUR. „In diesem Fonds haben wir über 40 Corporate-Investoren, im ersten Fonds waren es nur sechs. Das zeigt, dass die Unternehmen offener geworden sind, gerade auch der deutsche Mittelstand“, erklärt Dr. Tanja Emmerling, Partnerin im HTGF. 

Tatjana Emmerling; HTGF

Unicorns machen es vor

Die Finanzierungsseite hat sich also entwickelt – ebenso aber die Gründer selbst. Ihre Zahl wächst kontinuierlich. An vielen Hochschulen wird heute Entrepreneurship gelehrt, es gibt überall im Land Gründerzentren, die Zahl der Businessplanwettbewerbe nimmt zu. Das Gründen ist auch durch erfolgreiche „Leuchttürme“ für viele attraktiver geworden. Firmen wie Zalando oder Flixbus, Celonis oder N26 haben vorgemacht, wie man aus einer Idee ein großes Unternehmen machen und reichlich Geld verdienen kann. „Auf der Gründerseite hat sich viel getan. Die wissen heute genau, wie sie pitchen müssen, die kennen alle Begrifflichkeiten, sie wissen, was zu erwarten ist“, meint Emmerling. Das sei auch einem inzwischen großen Community-Netzwerk zu verdanken, wo erfahrene Gründer und auch schon viele Seriengründer mit Rat und Tat bereitstehen. 

Stabile Entwicklung trotz Krisen

Die Entwicklung der deutschen Start-up-Szene ist trotz der zahlreichen Krisen der letzten Jahre stabil. Zwar sind die Investitionen im ersten Halbjahr 2022 nach einer Analyse der Unternehmensberatung EY um 20% auf knapp 6 Mrd. EUR gesunken. Der Zeitraum markiert für die Branche dennoch das zweitbeste Ergebnis aller Zeiten. Das Investitionsniveau bleibt im Vergleich zu den vergangenen Jahren weiter hoch – von dem vielfach befürchteten Einbruch ist zumindest noch nichts zu sehen. Es ist immer noch viel Liquidität im Markt, die Investoren schauen aber genauer, wo sie investieren. Der Trend geht hier ganz klar in Richtung Nachhaltigkeit. Impact-Investoren wie Aenu wollen neben finanziellen Erfolgen ihrer Beteiligungen auch sicherstellen, dass sie eine positive gesellschaftliche Wirkung und einen Nutzen für die Welt insgesamt haben. Dieses Ansinnen spiegelt sich in den Gründungen selbst. „Die Zahl der grünen Gründungsprojekte ist erheblich größer geworden. Und ganz allgemein ist zu beobachten, dass immer mehr Gründungskonzepte die Prinzipien der Nachhaltigkeit berücksichtigen“, sagt Dr. Bertram Dressel, Geschäftsführer des Technologiezentrums Dresden. Vor fünf Jahren habe der Anteil der grünen Gründungen noch 17% betragen, mittlerweile liege er bei einem Drittel. Tendenz: steigend.

Dr. Bertram Dressel; Technologiezentrum Dresden

Gründerquote noch niedrig

Eine florierende Gründerlandschaft ist heutzutage volkswirtschaftlich von großem Nutzen, denn die Start-ups entwickeln die Ideen, für die etablierte Unternehmen deutlich zu viel Zeit bräuchten. Sie schaffen zahlreiche Arbeitsplätze und sorgen für Steuereinnahmen. Ein markantes Beispiel ist die Firma BioNTech aus Mainz. Dank des Erfolgs ihres COVID-Impfstoffs konnte die Stadt ihre Schulden aus den Steuereinnahmen des Unternehmens nahezu tilgen. „Als Wirtschaftsmotor sind Start-ups so wichtig wie nie zuvor, sie lösen Probleme und treiben Innovationen voran“, sagt Christian Miele, Vorstandsvorsitzender des Startup-Verbands. Es könnten aber durchaus noch mehr sein. Laut dem Global Entrepreneurship Monitor lag die Gründungsquote 2021 bei 6,9%. Damit belegt Deutschland im Vergleich mit 13 ausgewählten Ländern mit hohem Einkommen nur Platz zehn von 14. Laut Dressel wirken aber einige der vielen Maßnahmen zur Ankurbelung des Gründungsgeschehens geradezu kontraproduktiv. „Viele Unterstützungsmaßnahmen, wie zum Beispiel die Exist-Förderung, gehen tendenziell in die falsche Richtung. Sie führen dazu, dass die potenziellen Gründer Fett ansetzen, anstatt zielstrebig ihr Geschäft zu entwickeln“, sagt er. Gründer brauchten bei aller Unterstützung vor allem dies: den unbedingten Willen, zu gründen, und die Bereitschaft, dabei auf Sicherheit zu verzichten. Vielversprechende Ideen gebe es genug, aber das richtige Mindset fehle oft noch. In diesem Punkt gebe es in Deutschland Aufholbedarf. 

 

Christian Miele; Startup-Verband

Hürden fallen weg

Bei allen Verbesserungen bleiben Probleme. Besonders die komplizierte und aufwendige Bürokratie zieht sich wie ein roter Faden als große Herausforderung durch die Entwicklung der letzten Jahre. Das soll nun aber besser werden. In ihrer im Sommer beschlossenen Start-up-Strategie sieht die Bundesregierung vor, dass Gründungen künftig vollständig digital und möglichst innerhalb von 24 Stunden umsetzbar sein sollen. Hierzu sollen die dafür relevanten Onlinedienste von Bund, Ländern und Notaren verknüpft werden – ein wichtiger Schritt zu einem „One-Stop-Shop“, bei dem Start-ups dann Informationen und Anträge aus einer Hand bekommen. Auch bei anderen dringenden Problemen will die neue Strategie helfen. Vorgesehen ist, dass junge Unternehmen einen verbesserten Zugang zu öffentlichen Aufträgen bekommen. Außerdem sollen Ausgründungen aus der Wissenschaft vereinfacht werden, und über ein digitales Förderportal soll Licht in das Dickicht der Fördertöpfe von Bund, Ländern und Kommunen kommen. Im Idealfall können Gründer dort nicht nur die passenden Fördermöglichkeiten finden, sondern gleich auch Mittel beantragen und vollständig abwickeln. „Die beschlossene Start-up-Strategie ist ein wichtiges Signal an Start-ups und unterstreicht deren Bedeutung für die volkswirtschaftliche Entwicklung Deutschlands“, urteilt Miele. 

Akuter Personalmangel bereitet Sorgen

Wenn alles so kommt, wie man sich das vorgenommen hat, dann würden einige große Probleme für die Gründer in Zukunft spürbar verkleinert. Aber zugleich zieht ein noch größeres herauf: der Fachkräftemangel. Wie überall in der deutschen Wirtschaft suchen auch die Start-ups händeringend gut ausgebildetes Personal. Die richtigen Leute an der richtigen Stelle zu haben ist für sie noch deutlich entscheidender als für etablierte Unternehmen, da sie ihr Geschäft schnell skalieren müssen, um sich einen Platz am Markt zu verschaffen und zu sichern. Im Deutschen Startup Monitor 2022 geben schon 35% der befragten Unternehmen an, Personal zu finden sei für sie mittlerweile die größte Herausforderung. Im Wettbewerb um Talente haben sie es gerade in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten bedeutend schwerer, denn dann zieht es die jungen High Potentials viel eher in die gut dotierten und vor allem sicher erscheinenden Jobs der größeren Unternehmen.

Mitarbeiterbeteiligung als Benefit mit Stolpersteinen

Ein Weg, die eigene Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern, könnte die Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmen sein. Doch das geht in Deutschland nicht so ohne Weiteres. Hierzulande werden Beschäftigte, die am Start-up beteiligt werden, steuerlich zur Kasse gebeten, bevor sie ihre Beteiligungen überhaupt veräußert haben. Nach einer Untersuchung des Branchenverbands Bitkom setzen nur 3% der Unternehmen, die ihre Leute heute bereits am Unternehmen beteiligen, auf echte Anteile. Meist geht es dabei um virtuelle Anteile, die erst bei einem Exit ausgezahlt werden. Das ist für viele Mitarbeiter wenig attraktiv. „Wir brauchen dringend eine Anteilsklasse für Mitarbeitende im GmbH-Recht“, fordert Miele. In anderen Ländern sei man schon viel weiter. Deutschland liege im internationalen Vergleich auf dem letzten Platz. Die Politik hat das Problem inzwischen zwar erkannt. Alle bisherigen Versuche, es zu lösen, verliefen aber im Sande. Jetzt soll im Zuge der Start-up-Strategie ein neuer Anlauf genommen werden. 

Gute Perspektive

Für die Zukunft des Gründungsstandorts Deutschland sind die meisten Experten zuversichtlich. Der Trend zur Nachhaltigkeit, zu ESG-Themen, wird sich demnach weiter festigen und dazu beitragen, dass die gesamte deutsche Wirtschaft einen Paradigmenwechsel erlebt und sich Ökologie und Ökonomie künftig nicht mehr ausschließen, sondern ergänzen werden. Auch die Branchenspezifik wird wachsen. Die Investoren werden immer mehr erkennen, dass zum Beispiel ein IT-Start-up deutlich kürzere Entwicklungszeiten durchläuft als ein Biotechunternehmen, und das bei der Finanzierung berücksichtigen. Aber an einigen Stellen besteht auch noch einiges an Verbesserungspotenzial. „Wir müssen in der Spätphasenfinanzierung besser werden. Damit wird es dann auch leichter sein, Unternehmen im Land zu behalten“, meint Emmerling. Auch sollten sich junge Unternehmen künftig schneller auf den globalen Markt konzentrieren, als sie es heute tun. Schneller größer denken also. Insgesamt ist Emmerling aber optimistisch: „Es ist in Deutschland viel Potenzial vorhanden. Man darf jetzt nur nicht nachlassen.“