„Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitszeiten zu erfassen“

Interview mit Livia Merla, MGP Merla Ganschow & Partner

Livia Merla, MGP Merla, Ganschow & Partner
Livia Merla, MGP Merla, Ganschow & Partner

Bildnachweis: MGP Merla, Ganschow & Partner.

Am 13. September 2022 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass Arbeitgeber ab sofort zur vollständigen Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind. Diese Grundsatzentscheidung wirft bei vielen Unternehmen in der praktischen Umsetzung Fragen auf.

VC Magazin: Woraus ergibt sich die Pflicht zur Zeiterfassung?

Merla: Das BAG leitet die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung mithilfe einer eurorechtskonformen Auslegung aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes her. Diese Entscheidung sorgte für Aufsehen, denn bislang bestand für Unternehmen mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel bei Überstunden, keine Pflicht zur vollständigen Zeiterfassung aufgrund der deutschen Gesetzgebung.

VC Magazin: Was müssen Arbeitgeber jetzt in der Praxis tun?

Merla: Arbeitgeber sind nunmehr verpflichtet, mittels eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter zu erfassen. Dabei reicht es nicht aus, lediglich ein System im Betrieb zur Verfügung zu stellen. Vielmehr muss der Arbeitgeber sicherstellen, dass das Arbeitszeiterfassungssystem auch genutzt wird. Sofern der Arbeitgeber die Zeiterfassung dabei auf die Mitarbeiter delegiert, muss er diese auch kontrollieren. Nach Ansicht des BAG sind Beginn, Ende sowie Überstunden und damit die gesamte Dauer der Arbeitszeit zu erfassen. Dies kann in der Praxis bei Tätigkeiten, die über den Tag flexibel verteilt werden, zu einem verwaltungstechnischen Mehraufwand und Problemen führen. Ob das Zeiterfassungssystem digital oder handschriftlich gestaltet wird, überlässt das BAG in seiner Entscheidung dem Arbeitgeber selbst.

VC Magazin: Müssen alle Mitarbeiter ihre Zeiten erfassen?

Merla: Aus der Entscheidung des BAG lässt sich ein Hinweis ableiten, wonach sich die Arbeitszeiterfassung auf alle im „Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG“ erstreckt. Ausgenommen bleiben daher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die die Mitgliedstaaten auch bislang schon Ausnahmen vorgesehen hatten. Darunter fallen neben den leitenden Angestellten auch Mitarbeiter in der Binnenschifffahrt, der Luftfahrt oder dem Straßentransport. Leitende Angestellte sind bislang auch gemäß § 18 ArbZG von der Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit ausgenommen. Für alle anderen Arbeitnehmer gilt daher die Pflicht zur Zeiterfassung.

VC Magazin: Bedeutet dies das Ende der Vertrauensarbeitszeit?

Merla: Die Frage ist zunächst, wie man Vertrauensarbeitszeit definiert. Geht es den Parteien bei der Vertrauensarbeitszeit darum, die Arbeitszeit flexibel und ohne feste Vorgaben zu regeln, ist dies auch weiterhin möglich, sofern die geleisteten Arbeitszeiten erfasst werden. Wird die Vertrauensarbeitszeit in der Praxis hingegen so gelebt, dass Mitarbeiter ohne jegliche Dokumentation der Arbeitszeiten selbstbestimmt arbeiten, geht dies zukünftig nicht mehr.

VC Magazin: Welche Folgen drohen bei einem Verstoß?

Merla: Ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz ist derzeit nicht unmittelbar bußgeldbewehrt. Vielmehr bedarf es zunächst einer behördlichen Anordnung, die erst bei der Nichtbefolgung ein Bußgeld zur Folge haben kann.

VC Magazin: Was ist vom Gesetzgeber zu erwarten?

Merla: Das Bundesministerium hat bereits angekündigt, gesetzgeberisch tätig zu werden. Das BAG hat in seiner Entscheidung ausdrücklich betont, dass dem Gesetzgeber Spielräume bei der Gestaltung eines etwaigen Gesetzes zustehen. So ist die Rede davon, einzelne Arbeitnehmergruppen aufgrund der Art der Tätigkeit oder ihrer Größe von der Pflicht zur Erfassung möglicherweise auszunehmen.

VC Magazin: Was ist Ihre Handlungsempfehlung?

Merla: Wer als Unternehmen noch nicht mit einem Arbeitszeiterfassungssystem arbeitet, sollte sich spätestens jetzt über die verschiedenen Handlungsoptionen informieren und ein solches implementieren.

VC Magazin: Was bedeutet das konkret für Start-up-Unternehmer, die ihre ersten Mitarbeiter einstellen?

Merla: Die Pflicht zur Zeiterfassung gilt derzeit unabhängig von der Anzahl der Mitarbeiter. Daher sollte man sich bereits bei der Gründung des Unternehmens mit dem Thema auseinandersetzen.

VC Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.

Zum Interviewpartner:

Livia Merla ist Fachanwältin für Arbeitsrecht und Partnerin der Kanzlei MGP Merla Ganschow & Partner. Ihr wesentlicher Beratungsschwerpunkt ist die arbeitsrechtliche Betreuung von Arbeitgebern.