
Bildnachweis: seed + speed Ventures, UVC Partners, Osborne Clarke.
Was als Investmentziel boomt, verändert zunehmend die Venture Capital-Branche selbst: Künstliche Intelligenz (KI) trägt bereits vielfach dazu bei, Start-ups systematisch zu analysieren, Risiken präzise einzuschätzen und Entscheidungen mit Daten zu fundieren. Gleichzeitig bringt sie Investoren und ihre Intermediäre dazu, bestehende Strukturen und Prozesse neu zu denken. Spannend bleibt, wie die Entwicklung weitergeht – und welche Rolle der Mensch künftig spielt.
Aus der Investmentperspektive zählt KI seit Jahren zu den Technologiefeldern mit der höchsten Nachfrage. Kein anderer Sektor verzeichnet eine vergleichbare Dynamik bei Kapitalzuflüssen – ein klares Signal, dass Risikokapitalgeber das Transformationspotenzial von KI überdurchschnittlich hoch bewerten. Laut Datendienst Crunchbase entfielen im ersten Halbjahr 2025 knapp 50% der weltweiten Venture Capital-Finanzierungen auf KI-Start-ups. Allein OpenAI, inzwischen mit ChatGPT-5 am Markt, verzeichnete jüngst mit 40 Mrd. USD die größte Finanzierungsrunde eines Privatunternehmens. Unterdessen ist die Transformation in vollem Gange: Von der Automatisierung alltäglicher Aufgaben bis hin zu bahnbrechenden Neuerungen – KI revolutioniert unsere Lebens- und Arbeitsweise. Sie verändert auch die Venture Capital-Branche.
Noch gilt: Algorithmen scannen, Investoren entscheiden
Bei der Dealidentifikation helfen mittlerweile Plattformen, die mithilfe von Machine Learning potenzielle Investmentziele vorschlagen. Dabei werden unter anderem Markttrends, Gründerprofile und historische Erfolgsmuster berücksichtigt. KI-gestützte Tools werden auch eingesetzt, um Start-up-Daten effizienter auszuwerten – sei es im Hinblick auf Marktanalysen, Finanzkennzahlen oder juristische Risiken. In der Due Diligence beschleunigen Natural Language Processing-Systeme das Durchsuchen großer Datenmengen, wie etwa für Gesellschaftsverträge, Cap Tables oder Non-Disclosure Agreements. „Natürlich ist Künstliche Intelligenz weit mehr als ChatGPT. Aber allein seit dem Launch dieses Chatbots im November 2022 ist die Akzeptanz von KI in unserer Branche massiv gestiegen – was früher Aktenordner und Nachtschichten bedeutete, geht plötzlich per Knopfdruck! Das war schon beeindruckend“, erzählt Dr. Ingo Potthof, Managing Partner bei UVC Partners, einer der führenden Frühphasen-B2B-Tech-Venture-Capital-Gesellschaften in Europa. „Zudem entwickelt sich das Technologiefeld rasant weiter. Mit Large Language Models, prädiktiven Elementen und Deep Learning besitzt es heute ein immenses Potenzial für Produktivitätssteigerungen und Innovationen.“ Bei UVC nutzt man KI als Effizienz- und Analysewerkzeug, um Daten zu strukturieren, Prozesse zu beschleunigen, und für den besseren Überblick im Dealflow. Trotzdem steht der Mensch weiterhin im Zentrum der Entscheidungsfindung. „Um Genauigkeit und Zuverlässigkeit zu gewährleisten, ist unsere Aufsicht (noch) unerlässlich. Darüber hinaus bleibt der Kern unserer Arbeit menschlich: Abschlüsse entstehen wesentlich durch gegenseitiges Vertrauen, gemeinsame Erfahrungen und ein Gespür für Timing – all das lässt sich nicht einfach in Trainingsdaten abbilden“, so Potthof, der selbst Wirtschaftsinformatik studiert hat. „Gerade im Frühphasengeschäft, wo es naturgemäß an belastbaren Datenpunkten fehlt, zählt am Ende das Gründerteam und nicht der Algorithmus.“
Venture Capital-Entscheidungen werden immer stärker datengetrieben
Derzeit wagt aber niemand eine klare Prognose, wie Venture Capital in zehn Jahren aussehen wird. Der Gedanke nagt: Wenn quantitative Hedgefonds Milliardentrades dem Computer überlassen können, warum sollten dann die Algorithmen im Venture Capital-Business nicht funktionieren? Insbesondere für spätphasig orientierte Investoren gilt es, sich zu positionieren: Soll der menschliche Mehrwert zum noch relevanteren USP werden oder sind Investitionsentscheidungen automatisiert skalierbar? Oder wird zukünftig derjenige Marktführer sein, der die Balance zwischen menschlicher Expertise und Technologieeffizienz am besten meistert? „Das Spektrum der KI-gestützten Werkzeuge reicht von Marktanalysen bis zu Prognosesystemen für die optimale Exit-Variante. Fest steht: Venture Capital-Entscheidungen werden immer stärker datengetrieben und damit objektiver getroffen“, weiß Nicolas Gabrysch, Managing Partner von Osborne Clarke in Deutschland und seit über 20 Jahren in der Beratung von Venture Capital-Transaktionen tätig. „Fonds, die KI frühzeitig und konsequent einsetzen, können erheblich an Effizienz und Geschwindigkeit gewinnen. Ihr Personalbedarf sinkt, während ihr Vorsprung in Dealsourcing, Portfoliomanagement und Transaktionsabwicklung wächst.“ Auch seine eigene Branche steckt mitten in der Transformation: Routinearbeiten wie Vertragsanalysen, die Erstellung von Standarddokumenten und KYC-Prozesse werden zunehmend automatisiert. Kanzleien benötigen deutlich mehr technikaffine Juristen. „Unsere Wertschöpfung entsteht künftig nicht mehr ausschließlich durch die reine Stundenabrechnung, sondern durch die Fähigkeit, in komplexen Interessenkonflikten fundierte menschliche Beratung und Verhandlungskompetenz mit den Effizienzgewinnen moderner KI-Technologien zu verknüpfen“, so Gabrysch. Initiativen wie das German Standards Setting Institute (GESSI) zeigen, wie Standardisierung durch digitale Tools und Open Source-Dokumente Start-up-Finanzierungen schneller, günstiger und rechtssicher machen kann. Gabrysch ergänzt: „KI wird – bei gegebener Datenqualität – diese Entwicklung beschleunigen. Gleichzeitig wächst der Druck, mit einem wachsenden regulatorischen Rahmen umzugehen – von Datenschutz bis Geldwäsche. Der Balanceakt zwischen Verbraucherschutz und Innovationsfreiheit wird darüber entscheiden, wie konkurrenzfähig der Standort Deutschland und Europa im globalen Venture Capital-Wettbewerb sein wird.“
KI bietet Europas Venture Capital-Branche wichtige Chance
„KI verändert die Spielregeln erheblich“; diese Wahrnehmung teilt auch Alexander Kölpin.
Seit 2019 lenkt er den Berliner Kapitalgeber seed + speed Ventures, der in aufstrebende B2B-Software-Start-ups investiert. „Unter anderem demokratisiert die Technologie die
Start-up-Szene: In relativ kurzer Zeit lassen sich heute mit wenig Personal und Kapital
Prototypen und Produkte entwickeln, für die man früher Jahre und Millionen gebraucht
hätte.“ Aus Investorensicht bedeutet das: Die nächste Generation von Software-Einhörnern
könnte aus kleinsten Teams hervorgehen, während automatisierte Arbeitsabläufe Programmierung, Vertrieb und Kundenservice ersetzen. Umgekehrt bedeutet es aber auch,
dass Start-ups ohne echte technologische Besonderheit oder eigenes geistiges Eigentum
(IP) und ein nachhaltiges KI-resistentes Alleinstellungsmerkmal heute schwerer finanzierbar sind. Kölpin sagt: „Langfristig mag die Zahl der Venture Capital-investierbaren Geschäftsmodelle deshalb sinken – mit der Folge, dass sich der Venture Capital-Markt in Europa konsolidiert.“ Ob Menschen in zehn Jahren noch die überlegenen Entscheider sind oder nicht, hält er für eine untergeordnete Frage. Wichtiger sei doch, dass Europa im globalen Wettrennen nicht gänzlich zurückfalle. „Die aktuelle Dominanz der USA in diesem Bereich ist unübersehbar. Allein die Summen, die dort im Wettbewerb um KI-Talente aufgerufen werden, spielen in einer anderen Liga.“ Dennoch sieht er Chancen für europäische Fonds: „Die Dynamik im KI-Sektor und die hohe Akzeptanz der neuen Technologien hierzulande eröffnen uns eine Nische. Wenn wir international vernetzt bleiben und Trends früh adaptieren, bietet KI uns die Möglichkeit, in Europa neue Marktführer
hervorzubringen. Unsere Aufgabe ist es, sie frühzeitig zu finden und ihr schnelles Wachstum zu fördern!“ Kölpin ist sich sicher: „Wir werden in den kommenden Jahren ein Ausmaß an großartigen Innovationen erleben, von dem wir heute noch nicht einmal
eine Vorstellung haben.“


