Mit den richtigen Führungskräften das Wachstum sichern

Growth Recruiting

Viele gewachsene Start-ups sehen sich in der Wachstumsphase mit der Frage konfrontiert: Wie rekrutieren wir die passenden Führungskräfte, die uns Wachstumspotenziale zielsicher erschließen und entsprechende organisatorische Grundlage im Unternehmen legen? Diese Entscheidung ist aus zwei Gründen von entscheidender Bedeutung: Erstens möchte man sich durch die Rekrutierung von Spezialisten den Zugang zu belastbaren Kunden- und Distributionsnetzwerken erschließen; zweitens müssen die Grundlagen einer skalierbaren Unternehmensorganisation gelegt werden.

So sachlogisch diese Erwartungshaltungen an die potenziellen Führungskräfte von Wachstumsunternehmen sind, so risikobehaftet sind diese Entscheidungen für das Start-up. Durch falsche Personalentscheidungen gehen sowohl Finanzmittel als auch Zeit verloren – beides kritische Engpassfaktoren. Es stellt sich daher die Frage: Durch welche Mechanismen lässt sich die Unsicherheit bei der Personalauswahl von Wachstumsunternehmen reduzieren?

Das 3L-Fit-Modell für Wachstumsunternehmen

Um den bestmöglichen Fit des neuen Mitarbeiters im Vorfeld abschätzen zu können, kann beispielsweise das 3L-Fit-Modell herangezogen werden. „3L“ steht hier für die drei unterschiedlichen Level, die bei der Personalauswahl beachtet werden sollten. Erstens gilt es, das Kompetenzprofil des Bewerbers zu bewerten. Dieses setzt sich aus den Fachkenntnissen, der Branchenerfahrung und der Konstanz des Werdegangs zusammen. Darüber hinaus sollte das geschäftliche Netzwerk der Kandidaten intensiv beleuchtet werden. Hierbei geht es nicht vorrangig um die Bewertung der bisherigen Geschäftsbeziehungen des Kandidaten; inwiefern diese auf das Wachstumsunternehmen übertragbar sind. Es geht hier auch nicht um die rein numerische Auflistung gesammelter Visitenkarten, sondern um eine potenzialorientierte Bewertung. Als besonders hilfreich haben sich standardisierte Referenzinterviews erwiesen: Der Bewerber erstellt eine Liste seiner Geschäftsbeziehungen – mit einer randomisierten Auswahl davon werden dann die bisherigen Interaktionen mit dem Bewerber diskutiert. Warum ist diese Referenzprüfung insbesondere für Wachstumsunternehmen von essenzieller Bedeutung? Für die meisten Wachstumsunternehmen ist es entscheidend, dass angehende Fach-/Führungskräfte möglichst schnell und zielsicher zum Wachstum des Unternehmens beitragen: ein sogenanntes Plug and Play Hiring.

Nicht jede Persönlichkeit passt in ein dynamisches Start-up-Umfeld

Das zweite „Level“ der Entscheidungskriterien gleicht die Persönlichkeitsstruktur des Kandidaten mit den Erwartungen an die neue Position ab. Hierbei ist es wichtig, zwischen der Passung auf die auszuübende Rolle und der Passung zur Unternehmenskultur zu unterscheiden. Leider wird oftmals der Fokus ausschließlich auf den ersten Aspekt gelegt: Ein zukünftiger Vertriebsleiter muss extrovertiert, impulsiv und kommunikativ sein – das ist die klassische Denke. Es wird jedoch meist nicht hinterfragt: Teilt der zukünftige Mitarbeiter das Wertesystem des Unternehmens? Inwieweit identifiziert er sich mit dem Unternehmensethos? Insbesondere bei gewachsenen Start-ups ist dieser Abgleich zentral für den langfristigen Erfolg der Personaleinstellung, denn ist das Delta im Wertekonsens zu groß, besteht die Gefahr einer Fraktionsbildung im Unternehmen. Im schlimmsten Fall erhöht sich die Mitarbeiterfluktuation mit unvorhersehbaren Folgen für den unternehmerischen Erfolg.

Die Herausforderung der kulturellen Divergenz

Ein zentrales Merkmal von Wachstumsunternehmen ist die Dynamik der Entscheidungssituationen. Ohne Zweifel: Risikobehaftete Entscheidungen in einem dynamischen Umfeld sind Kernbestandteil unternehmerischen Handelns. In einem jungen, stark wachsenden Unternehmen sind jedoch sowohl der Grad der Zielerfüllung als auch die damit verbundenen Handlungsoptionen nur sehr schwer plan- und vorhersehbar. Diese spezifischen Rahmenbedingungen erfordern ein besonderes Mindset bei den Personen, die Entscheidungen tragen und verantworten. Dieses sogenannte Ecosystem Mindset ist Kernbestandteil der dritten Ebene des 3L-Fit-Modells. Hier gilt es, drei Fähigkeiten bei potenziellen Fach- und Führungskräften zu ergründen. Die Ecosytem-Kompatibilität drückt die Fähigkeit des Kandidaten aus, die Strukturen für Entscheidungen in einem dynamischen Umfeld erst zu schaffen und diese nicht schon vorzufinden. Insbesondere bei Kandidaten, die längere Zeit in einem Konzernumfeld tätig waren, sollte man auf diese Kompetenz achten. Die dynamische Adaptabilitätsfähigkeit, die ein Kandidat zwingend haben sollte, ist seine individuelle Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen: Denn viele Führungskräfte besitzen zwar die Fähigkeiten, ihre Handlungsoptionen anzupassen – viele scheitern aber daran, ihr eigenes Mindset zu hinterfragen. Die Ambiguitätstoleranz drückt hierbei aus, ob Personen diese dynamischen Entscheidungssituationen positiv annehmen oder eher als belastend empfinden.

Fazit

Das beschriebene Modell ermöglicht es Wachstumsunternehmen, das Risiko bei der Auswahl von Fach- und Führungskräften deutlich zu minimieren. Der Auswahlprozess ist zwar aufwendiger und erfordert eine intensivere Betrachtung der jeweiligen Kandidaten. Dies wird aber bei Weitem durch die Vorteile aufgewogen: schnell und zielsicher Wachstumspotenziale zu erschließen!

 

Dr. Jochen Becker (CFA) ist Executive Consultant beim Hanseatischen Personalkontor in Hamburg. Er berät Wachstumsunternehmen und deren Investoren bei der Rekrutierung von Fach- und Führungskräften. Während seiner Tätigkeit als Senior Researcher an der ETH Zürich arbeitete er intensiv mit Start-ups und (Corporate-)Venture Capital-Gesellschaften zusammen und entwickelte – in Kooperation mit dem VentureCapital Magazin – den CVC Sentiment Index.