Menschen führen – statt Prozessschritte kontrollieren

Interview mit Stephan Penning

Change-Management-Experte Stephan Penning über Dauerkrisen, überforderte Führungskräfte und die Kunst, Wandel als ständigen Lernprozess zu gestalten.
Change-Management-Experte Stephan Penning über Dauerkrisen, überforderte Führungskräfte und die Kunst, Wandel als ständigen Lernprozess zu gestalten.

Bildnachweis: VC Magazin.

VC Magazin: Herr Penning, Sie gelten als einer der erfahrensten und versiertesten Change-Berater in Deutschland. Können Sie es nachvollziehen, dass in vielen Unternehmen die Führungsriegen und Beschäftigten das Wort „Change“ nicht mehr hören können angesichts all der tiefgreifenden andauernden Veränderungen wie Klimakrise, Ukraine-Krieg, Wirtschaftskonflikte, demographischer Wandel, Künstliche Intelligenz?

Penning: Es ist verständlich, dass sich Menschen von krisenhaften Veränderungen, die
vermeintliche Gewissheiten in Frage stellen oder gleich über den Haufen werfen, überfordert fühlen können. Viel beunruhigender ist jedoch, wenn Unternehmen einfach weitermachen wie bisher. Denn all diese Krisen schreien ja nach einer Reaktion, die Veränderungen erfordern. Die Beschäftigten sollten sich auch vergegenwärtigen, dass Change ein Entwicklungsprozess ist, der oft auch verborgene oder ungenutzte Potentiale freisetzt, was gerade von den Mitarbeiter als positiv erlebt wird. Aber eins ist auch klar: Die Herausforderungen sind komplex. Es gibt keine einfachen Change-Rezepte für die großen Themen unserer Zeit.

VC Magazin: Vermutlich dürfte eine Vogelstraußtaktik – Abducken und nach einiger Zeit wieder auftauchen, wird schon nicht alles so schlimm werden mit den Krisen – auch nicht die richtige Antwort auf die aktuellen Herausforderungen sein. Wie schaffen es also Unternehmen, sich den Herausforderungen zu stellen, ohne in Dauerhektik zu verfallen? Wer ständig überdreht, kommt ja nicht schneller ans Ziel, sondern steht irgendwann mit ausgebranntem Motor am Straßenrand und wird von allen anderen überholt.

Penning: Hektik ist meist das Ergebnis schlechter Planung. Wie kann man sie also vermeiden? Das alte Drei-Phasen-Change-Modell war „unfreeze, move, freeze“. Diese Überzeugung ist immer noch da: wir verändern was, frieren den neuen Status Quo ein und dann haben wir ein paar Jahre Ruhe. Doch so funktioniert es selbst in stabilen Märkten nicht mehr. Es braucht das Verständnis, dass Change eine kontinuierliche Anpassungsleistung des gesamten Unternehmens ist.

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Wenn diese Haltung erfolgreich im Unternehmen aufgebaut wird, bricht keine Hektik mehr aus. Dann greifen Frühwarnsysteme, etablierte Innovationsprozesse und klare Beobachtungspunkte – und der Aktionismus bleibt aus. Das Unternehmen lernt so, sich zu hinterfragen, zu reflektieren ob bestehende Prozesse und Zusammenarbeitsmodelle noch passen. Wo hakt es, woran erkennen wir dies, welche Auswirkungen hat es, welche Handlungsoptionen haben wir? Wer sich diese und ähnliche Fragen kontinuierlich stellt, der muss keinen Hauruck-Change initiieren.

VC Magazin: Den meisten Unternehmen ist klar geworden: Damit sie langfristig erfolgreich bleiben, sind Veränderungen keine Einzelfälle mehr, sondern werden zur Regel. Führungskräfte und Mitarbeiter sind besonders gefordert, die Parallelität von Alltagsgeschäft und Musterbruch zu meistern. Doch wie genau soll das gehen – das Fahren auf Sicht und zugleich das Avisieren langfristiger Ziele? Sie als Berater verwenden dafür das schöne Wort der „Ambidextrie“ – also der „Beidhändigkeit“ am Steuerrad.

Penning: Ambidextrie ist die Fähigkeit sowohl zur operativen Exzellenz als auch zur Innovation. Das heißt aber nicht, dass jeder einzelne Mitarbeiter beides gleichermaßen können muss. Allerdings muss das Unternehmen sicherstellen, dass für beides Prozesse und Ressourcen bereitstehen. Ambidextrie bedeutet wiederum für jede Führungskraft einen Spagat: Kontinuität im Tagesgeschäft sichern und zugleich Innovation und Weiterentwicklung fördern. Damit wir uns nicht missverstehen: auch auf der Kontinuitätsseite findet Change statt im Sinne einer ständigen Verbesserung innerhalb
bestehender Abläufe und Rollen. Innovation und Weiterentwicklung braucht aber ganz andere Change-Ansätze: Kreativität, Gestaltungsfreiraum, interdisziplinäre Teams, Selbstorganisation. Dazu kommt dann noch eine dritte Führungsaufgabe: die Brücke zwischen Innovation und Kontinuität zu schlagen. Jede gute Idee muss sich ja skalieren lassen, im Unternehmensalltag umsetzbar sein und ihren Markt finden.

VC Magazin: Sie haben zur „Ambidextrie“ zusammen mit Forsa eine Studie durchgeführt. Erschreckendes Ergebnis: 44 Prozent der Führungskräfte fühlen sich aufgrund zusätzlicher Projektarbeit „hoch“ oder „überdurchschnittlich“ belastet. Wie sollen sie vor diesem Hintergrund noch Reserven und Kraft für langfristige Planungen und die Steigerung der Unternehmens-Resilienz freimachen?

Penning: Im Mittelstand gibt es die Tendenz, Fachprojekte mit Führungskräften zu besetzen. Sie gelten immer noch als beste Experten, auch wenn sie im Alltag gar nicht mehr so tief in den fachlichen Themen stecken. Führungskräfte werden dann zum Flaschenhals. Solch eine Politik ergibt daher keinen Sinn. Vielmehr kann Mitarbeit in den Projekten auch von fachlich versierten Mitarbeitern übernommen werden. Doch solange Projektarbeit als Prestige gilt, bleibt die Überlastung bestehen.

VC Magazin: Haben Sie ein Patentrezept dafür, wie besonders Führungskräfte aus der so wichtigen zweiten Reihe in Unternehmen von der Projektarbeit entlastet werden können – und so mehr Zeit gewinnen für die so bedeutende und häufig vernachlässigte „Führung“?

Penning: Es gibt keine „Patentrezepte“, so wie für Change generell. Wie sagt man in Köln: „Jeder Jeck ist anders.“ Jedes Unternehmen ist anders, jede Unternehmenskultur und jede Führungskultur. Sie können da nicht „Schema F“ anlegen. Projektarbeit ist nicht das Problem, sondern fehlende Führungsarbeit – und dabei ist mangelnde Zeit nur einer von mehreren Faktoren. Ein Ansatz ist es,
bestimmte Tätigkeiten der Führungskraft auf die Mitarbeiter zu verteilen, was natürlich deren Befähigung voraussetzt. In diese müsste die Führungskraft zunächst investieren, aber dafür gewinnt sie mittelfristig dauerhafte Entlastung. Mehr eigenverantwortliches und selbstgesteuertes Arbeiten der Mitarbeiter verringert den Aufwand für die Führungskraft – erfordert aber auch einen anderen Führungsstil: mehr Berater und Entwickler, statt Vorgesetzter und Mikro-Manager zu sein. Mehr Menschen führen als Prozessschritte zu kontrollieren.

VC Magazin: Wie entscheidend ist aus Ihrer Sicht (noch) der Faktor Mensch für den Erfolg von Unternehmen?

Penning: In den allermeisten Unternehmen wird der Mensch auf absehbare Zeit der entscheidende Faktor für den Erfolg bleiben. Gewiss wird, unter anderem durch KI, vieles automatisiert werden, was heute noch Menschenwerk ist. Aber da reden wir von Standardlösungen für Standardaufgaben. Aber alles, was ein Unternehmen besonders macht – wird weiter von Menschen geprägt.

VC Magazin: Welche Tugenden braucht eine gute Führungskraft heute – und in fünf oder zehn Jahren?

Penning: Eine ganze Menge – und vieles davon gilt schon heute! Coach sein, Mentor sein, Sparringspartner sein. Die Stärken und Motivationen der Mitarbeiter erkennen und sie entsprechend einsetzen und weiterentwickeln. Ihnen Verantwortung geben und dazu anleiten, aus Fehlern zu lernen. Den jeweiligen Sinnzusammenhang einer Aufgabe erklären. Den Teamspirit stärken. Konflikte im Team moderieren. Die eigenen Kompetenzen realistisch einschätzen und gezielt auszubilden. Und natürlich: die eigene Ambidextrie stärken und die der Mitarbeiter fördern. In 10 Jahren? Das ist Spekulation. Vor allen Dingen eine Antwort auf die Frage: will ich führen und wenn ja, wie will ich führen? Führung ist weit mehr als der nächste, unausweichliche Schritt auf der Karriereleiter. Führung bedeutet, mit anderen gemeinsam gestalten zu wollen: mit dem Team aber auch innerhalb des Führungskreises. Gut kommunizieren zu können, Fragen zu stellen, zuzuhören,
Perspektiven aufzuzeigen und an der Weiterentwicklung der Organisation und ihrer Menschen mitzuarbeiten. Die Liste ist lang, aber genau das macht eine Führungskraft aus – heute wie in der Zukunft.

VC Magazin: Vielen Dank für das Gespräch!